Der Fall schockiert die Schweiz: Am Donnerstag wurde Assunta L.* (†75) in einem Wohnhaus am Nasenweg in der Stadt Basel tot im Treppenhaus aufgefunden. Dringend tatverdächtig ist dabei Raphael M. (32) – der Mann befindet sich aufgrund einer psychotischen Störung in der geschlossenen Psychiatrie in den Universitären Psychiatrischen Diensten Basel-Stadt (UPK) in Behandlung. Dies, da er vor zehn Jahren einen Doppelmord beging – einen davon im selben Wohnhaus.
Am Freitag wurde bekannt, dass M. nach einer öffentlichen Fahndung festgenommen werden konnte. Zum Tatzeitpunkt hatte der mutmassliche Killer jedoch unbegleiteten Freigang. Ein Schritt, der, wie der forensische Psychiater Thomas Knecht gegenüber Blick erklärt, nur unter extrem genau geprüften Bedingungen bewilligt wird.
Wie Personen nach draussen dürfen
«Wenn es darum geht, zu entscheiden, wann jemand begleiteten oder unbegleiteten Ausgang bekommt, geht es um Risikokalkulation und die Progressionsstufe der zu behandelnden Person – Kliniken haben dabei selber einen Plan, an den sie sich halten müssen», so Knecht. Könne mit einem Patienten eine genügend grosse Vertrauensbasis aufgebaut werden, dass eine gewisse Eigenverantwortung in einem sozialen Umfeld risikofrei möglich ist, darf diese Person nach draussen. Dabei muss sie sich jedoch an einen vorgegebenen Radius und eine Zeitlimite halten.
Das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt teilt gegenüber Blick mit, dass der mutmassliche Täter nicht im ersten unbegleiteten Freigang gewesen sei. Der Täter sei von der behandelnden Ärzteschaft regelmässig medizinisch auf seinen aktuellen Zustand untersucht worden. Dabei werde aufgrund von Gutachten und Berichten über den Therapie-Fortschritt über Massnahmenlockerungen entschieden. Das Departement schreibt: «Befindet sich eine Person mit einer angeordneten Massnahmen und mit einem schweren Anlassdelikt im unbegleiteten Ausgang, hat zuvor ein medizinisches Gutachten von der behandelnden Ärzteschaft das entsprechende Gefahrenpotenzial beurteilt.»
Bei dieser Entscheidung fliessen laut Knecht immer die Meinungen aller Involvierter zusammen. Obwohl das Oberhaupt der Anstalt jeweils das letzte Wort hat, müssen auch die Behandelnden, das Pflegepersonal und sonstige Betreuende ihre Einschätzung abgeben. Dabei wird jedes kleine Detail berücksichtigt: «Erfahrungswert der behandelnden Personen, Zustandsbild des Patienten, ob Aggressionen vorliegen, wie gesund das Sozialverhalten ist, ob ein Bewusstsein über die eigene Krankheit existiert und noch vieles mehr.» Sind all diese Bedingungen erfüllt, darf der Patient oder die Patientin auf «die nächste Stufe» – nach draussen.
«Obwohl sich diese Methode zahlreiche Male bewährt hat und von Studien unterstützt wird, hat der Mensch als Lebewesen einen kleinen Rest von Unberechenbarkeit», betont Knecht. «Das Restrisiko kann sich verdichten, das ist einfach die menschliche Natur, und es kann zu Ausreissern kommen, wie es in Basel der Fall war.» Momentan wird davon ausgegangen, dass M. sich zielgerichtet von der UPK in der Nähe des Flughafens zum Haus der 75-Jährigen begeben hat.
Ähnliche Vorgehensweisen bei wahnkrankem M.
Was auffällt: M. hat 2014 bereits in demselben Haus eine Frau angegriffen. Die 42-Jährige verstarb nach der Messer-Attacke. Daraufhin flüchtete M., und tötete auf seinem Weg in einem anderen Haus, nur wenige Hundert Meter vom Nasenweg entfernt, wieder. Ein 88-jähriger Rentner wurde zudem schwer verletzt. Knecht erklärt, dass es zwar nicht die Grunderfahrung sei, dass Täter zum selben Ort zurückkehren, Wahnkranke jedoch oft eine Art Muster aufzeigen.
«Wahnkranke zeigen oft ähnliche Vorgehensweisen. So ist etwa die Altersklasse der Opfer ähnlich oder das Geschlecht gleich – die Opfer sind meist uniform. Der Wahn zieht die Betroffenen oft in dieselbe Richtung. Man kann also nicht von einem Zufallsprinzip sprechen.» Dass M. sich denselben Ort aussuchte, könnte darauf zurückzuführen sein.
«Krankheit ist eigentlich gut behandelbar»
Nach dem Doppelmord 2014 wurde bei M. eine Psychose diagnostiziert. Eine Krankheit, die grundsätzlich gute Heilungschancen hat, so Knecht. «Die Behandlung erfolgt durch moderne Methoden, wie die antipsychotische Therapie und andere Massnahmen. Das Risiko kann dadurch heruntergeschraubt werden, eine gestufte Entlassung ist möglich. Diese Methode funktioniert überraschend gut.» Einzelne Katastrophen durch Rückfälle seien jedoch nicht auszuschliessen.
Auffallend sei jedoch, wie lange M.s Behandlung dauere. «Gerichtliche Massnahmen sind grundsätzlich fünf Jahre gültig», erklärt Knecht. In dieser Zeit könne man in vielen Fällen bereits viel bewirken. Ist ein Restrisiko durch die Behandelnden dann noch nicht auszuschliessen, kann eine Verlängerung beantragt werden. «Dass er nach zehn Jahren also erst in den unbegleiteten Freigang darf, ist eine lange Behandlungszeit.»
*Name bekannt