Auf einen Blick
Wahllos schoss der sturzbetrunkene Antonio M.* (50) im Juni 2022 am Prattler Bahnhof auf Passanten und versetzte seine Opfer in Todesangst. Hätte seine Waffe nicht geklemmt – es wäre wohl ein blutiger Amoklauf geworden. Dafür muss sich der Italiener vor dem Baselbieter Strafgericht in Muttenz verantworten. Für die Vorwürfe – darunter versuchte vorsätzliche Tötung – könnte der heute M. mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zu 20 Jahren bestraft werden. Doch ausgerechnet eine Alkoholvergiftung samt Filmriss könnte den Beschuldigten vor dem Gefängnis bewahren. Ich war zu betrunken – was wie eine billige Ausrede klingt, ist vor Schweizer Gerichten ein gewichtiges Argument.
Laut einem Gutachter führte die Alkoholvergiftung – noch Stunden nach der Tat hatte Antonio M. 1.6 Promille im Blut – dazu, dass er zum Tatzeitpunkt unter Wahrnehmungsstörungen litt. Weiter sah der Experte die Amnesie – also den Filmriss – als plausibel an. Antonio M. hat an den Beinahe-Amoklauf durch Pratteln keine Erinnerungen.
Eingeschränkte Schuldfähigkeit
Insgesamt bewertete der Gutachter die Schuldfähigkeit von Antonio M. zum Tatzeitpunkt als «schwerwiegend eingeschränkt». Auch die Staatsanwältin trug dieser eingeschränkten Schuldfähigkeit durch den übermässigen Alkoholkonsum Rechnung. Sie forderte deshalb «nur» sieben Jahre Freiheitsstrafe neben weiteren Anträgen, wie etwa einem Landesverweis.
Dies, obwohl gemäss einer Faustregel erst ab 3 Promille eine völlige Schuldunfähigkeit vorgesehen ist. Bei einer Blutalkoholkonzentration zwischen 2 und 3 Promille wird von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen und die Strafe kann gemildert werden.
Joël Naef, der Anwalt von Antonio M., will, dass sein Mandant gar nicht in den Knast muss. Er forderte lediglich eine bedingte Geldstrafe von 100 Tagessätze zu zehn Franken sowie eine Busse. Im Falle einer Freiheitsstrafe sollte diese zugunsten einer Massnahme aufgeschoben werden. «Insbesondere die Therapie hilft ihm sehr.»
Eine Alkoholvergiftung als Freibrief für einen Beinahe-Amoklauf? Für die Opfer von Antonio M. vermutlich eine schallende Ohrfeige. So wünschte sich Müslüm C. (31)**., der Bruder des mittlerweile an einem medizinischen Problem verstorbenen Geschädigten Firat C.** (21†): «Der Täter soll eine gerechte Strafe erhalten und diese dann auch wirklich absitzen.»
Doch im Strafgesetzbuch steht unter Artikel 19: «War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar».
Motion abgelehnt
Dass sich manche Schweizer mit dieser Regelung schwertun, zeigt eine Motion der ehemaligen Nationalrätin Andrea Geissbühler (SVP). Im September 2015 forderte sie, dass das Strafgesetzbuch dahingehend abzuändern sei, dass Alkohol- bzw. Drogeneinfluss von der verminderten Schuldunfähigkeit auszunehmen sind und damit nicht strafmildernd berücksichtigt werden können. Der Grund: Obwohl die Gerichte bei selbstverschuldeter Schuldunfähigkeit – etwa durch den Konsum von Alkohol – einer Strafmilderung nicht stattgeben müssen, drücken sie in der Praxis oftmals ein Auge zu.
Ob der Alkohol bei Antonio M. zu einer milderen Strafe führt, muss sich noch zeigen. Das Urteil fällt am Donnerstag um 15 Uhr.
*Name geändert
** Namen bekannt