Hier wird der Mann festgenommen
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Nach Schussabgabe:Hier wird der Mann festgenommen

Fast-Amoklauf in Pratteln BL
Antonio M. muss 10 Monate in den Knast

Wahllos schoss Antonio M. (50) im Juni 2022 am Prattler Bahnhof auf Menschen. Eines der Zufalls-Opfer: Firat C. (†21). Er verstarb rund ein Jahr danach. Am Donnerstag wurde der Amokläufer verurteilt. M. muss 10 Monate ins Gefängnis.
Publiziert: 26.09.2024 um 15:26 Uhr
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Aktualisiert: 26.09.2024 um 15:32 Uhr
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Nachdem Antonio M.* (heute 50) rund um den Bahnhof Pratteln wütete und auf mehrere Menschen schoss, ergab er sich der Polizei.
Foto: Blick-Leserreporter

Auf einen Blick

  • Betrunkener schiesst in Pratteln, Waffe versagt
  • Opfer überlebten durch Ladehemmung der Waffe
  • Schütze hatte 1,6 Promille im Blut
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Qendresa LlugiqiReporterin News
26.09.2024, 18:16 Uhr

Zusammenfassung

Der sturzbetrunkene Antonio M.* (50) schoss im Juni 2022 am Prattler Bahnhof wahllos auf Passanten und versetzte seine Opfer in Todesangst. Hätte seine Waffe nicht geklemmt – es wäre wohl ein blutiger Amoklauf geworden. Dafür musste sich der Italiener am Mittwoch vor dem Baselbieter Strafgericht in Muttenz verantworten. Am Donnerstag fiel das Urteil – wobei der Beschuldigte mit einem blauen Auge davon kam. Er kassierte eine teilbedingte Strafe von zweieinhalb Jahren, wovon er zehn Monate verbüssen muss. Allerdings wird hier seine U-Haft angerechnet, wodurch er nur noch vier Monate absitzen muss. 

Das Urteil liegt weit unter dem Antrag der Staatsanwältin. Sie forderte in ihrem Plädoyer am Mittwoch eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Anders als Joël Naef, der Verteidiger von Antonio M. Er sah viele Vorwürfe als nicht bewiesen an und forderte deshalb lediglich eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen à 10 Franken.

Der Richter machte vor Gericht klar: Eigentlich wären «neun Jahre für diese Tat angemessen» gewesen. Doch eine Alkoholvergiftung und ein Filmriss bewahrten Antonio M. vor einem längeren Gefängnisaufenthalt – das Gericht reduzierte seine Strafe aufgrund des exzessiven Alkoholkonsums um drei Viertel. Ein Gutachter schätzte die Schuldfähigkeit des Schützen in der Tatnacht nämlich als «schwerwiegend eingeschränkt» ein. 

Weiter verzichtete der Richter auf einen Landesverweis. Trotzdem auferlegte er Antonio M. ein Alkohol- und Waffenverbot. Ausserdem muss der Schütze die Verfahrens- und Gerichtskosten tragen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

26.09.2024, 16:50 Uhr

Ende

Die Verhandlung ist nun geschlossen.

26.09.2024, 16:50 Uhr

Der Richter geht auf den Nicht-Landesverweis ein. «Herr M. hat seit 44 Jahren keine Bindung zu Italien. Er hat die prägenden Jahre hier in der Schweiz verbracht.» Der Beschuldigte kam als Sechsjähriger in die Schweiz. «Ausserdem leben hier sein Vater und seine Halbgeschwister. Er hat hier auch soziale Beziehungen, auch wenn diese nicht sehr tiefgreifend sind, weil er sich als Einzelgänger sieht.»

Die Staatsanwältin meinte am Mittwoch, dass der Beschuldigte, trotz seines langen Aufenthalts hier, nicht integriert sei. Hierauf geht der Richter ebenfalls ein: «Für eine Integration spricht, dass er keine Vorstrafen hat. Ausserdem war er beruflich gut integriert. Sie haben geschafft – und dann ging es einfach nicht mehr.» Und weiter: «Gegen eine Integration sprechen die Schulden.» Diese seien aber nicht aus Mutwilligkeit angehäuft worden. Laut dem Richter soll nun die Bewährungshilfe Antonio M. dabei helfen, die Schulden zu sanieren.

Ein weiteres Argument, weshalb Antonio M. in der Schweiz bleiben sollte: «Nur die Schweiz kann ihm diese Unterstützung geben, die der Beschuldige nun braucht.!»

26.09.2024, 16:29 Uhr

«Eigentlich 9 Jahre und 3 Monate»

Der Richter geht jetzt auf das Urteil – teilbedingt vollziehbare Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren – ein. Er stellt klar: «Für Ihre Tat, Herr M., müssten wir Sie eigentlich mit neun Jahren und drei Monaten bestrafen.»

Festzuhalten ist: Antonio M. müsste eigentlich für zehn Monate ins Gefängnis. Sechs Monate davon hat er aber bereits abgesessen. 20 Monate werden aufgeschoben. Hier hob das Gericht die Probezeit maximal an – auf 5 Jahre.

Der Richter geht noch auf die Rückfallgefahr ein: «Diese ist gemäss Gutachten nicht erhöht, solange Herr M. dem Alkohol fernbleibt. Und ich denke, das ist ihm bewusst.» Jetzt geht es darum, dieses Risiko zu neutralisieren – dies unter anderem in der Therapie. Auch das Alkohol-Verbot sollte hierbei helfen. Sprich: Eigentlich wurde alles angeordnet, was Antonio M. bereits als Ersatzmassnahmen nach der U-Haft auferlegt erhalten hatte und jetzt macht bzw. nicht machen darf. Allein die Gespräche beim Kantonalen Bedrohungsmanagement fallen weg.

26.09.2024, 16:22 Uhr

Massiver Aufwand fürs Gutachten

Der Richter erklärt weiter, dass in diesem Fall der Gutachter sich enorm ins Zeugs gelegt habe. «Er hat einen massiven Aufwand betrieben, um zu stehen, warum der Beschuldigte so gehandelt hat, wie er es eben getan hat.» Und: «Er wollte sicher gehen, nichts zu übersehen.» Der Richter zählt hier auf, das zahlreiche Dokumente aus verschiedenen Lebensepisoden des Beschuldigten Eingang ins Gutachten fanden – so etwa auch Berichte des Migrationsamts und der IV-Behörde. 

Der Richter hält aus dem Gutachten fest, dass eine schwerwiegende Alkoholintoxikation mit Wahrnehmungsstörungen am Tatabend vorlag.

26.09.2024, 16:14 Uhr

Polizisten als Ziel

Weiter geht der Richter auf das Zielen von Antonio M. mit seiner Glock auf die beiden Polizisten ein. Auch hier ist für ihn klar: Der Sachverhalt ist erstellt.

26.09.2024, 16:13 Uhr

Fokus auf Kopfschüsse

Weiter geht der Richter darauf ein, dass Antonio M. Firat C. als «Terrorist» bezeichnet haben soll. «Firat C. ist türkischstämmig und ihm ist das anzusehen. Diese Beschreibung von Antonio M. passt zu seinem Weltbild. Gegenüber dem Gutachter meinte er eben auch, dass unsere Gesellschaft von Arabern unterwandert wird.» Auch das angebliche «Kompliment» stellt laut Richter eigentlich etwas ganz anderes dar: In einer früheren Aussage soll Antonio M. gesagt haben, dass er seine Glock holen und jemandem eine schöne Frisur verpassen wollte. Der Richter findet: «Was für Antonio M. schöne Haare zu haben oder eine schöne Frisur zu machen, bedeutet, ist ja klar: Und zwar den Leuten in den Kopf zu schiessen.» Dieser Fokus passe auch zur späteren Handlung, dass er etwa den beiden Freundinnen von Firat C. oder sich selbst in den Kopf schiessen wollte.

26.09.2024, 16:03 Uhr

Keine Absprache unter Freundinnen

Jetzt kommt der Richter auf die «Abzugsbewegungen» von Antonio M. in Richtung der Freundesgruppe von Firat C. Der Richter erklärt hier: «Der Vorwurf ist klar: Antonio M. soll versucht haben, Firat C. zu töten.» Hierbei sei es egal, ob die Pistole den Körper berührt hat oder nicht oder ob der Schütze auf den Bauch oder den Oberkörper zielte. Verteidiger Naef kritisierte während des Prozesses am Mittwoch die wagen Beschreibungen der Staatsanwaltschaft.

Auch hier vertraut der Richter auf die Aussagen von Firat C. und seinen Freunden. Für ihn ist klar, dass Antonio M. den damals 20-Jährigen und die beiden jungen Frauen töten wollte. Dass die Aussagen nicht 1:1 passen, spreche eigentlich dafür, dass sich die Freunde – vorwiegend die beiden Frauen – nicht zuvor abgesprochen hätten. Auch sehe der Richter keinen Grund, weshalb die Geschädigten Antonio M. grundlos beschuldigten sollten. 

26.09.2024, 15:32 Uhr

«Um Menschen zu töten»

Dann kommt der Richter auf das Geschehen rund um den Bahnhof Pratteln zu sprechen. Anders, als in der Anklage beschrieben, stellt der Richter hier klar: «Es gab einen einzigen richtigen Schuss! Hier wurde die Hülse auch gefunden. Die Waffe und die Hülse wurden miteinander abgeglichen und die Spuren passten überein.»

Der Schuss auf zwei Passanten ist laut Forensik tatsächlich aus einer Distanz von 40 Metern über die Gleise hinweg abgefeuert worden. Hier macht der Richter darauf aufmerksam, dass Antonio M. zwar gemäss Erfahrungswerten auf einer Distanz von 25 Metern erfolgreich trifft. «Trotzdem sind diese 40 Meter keine ungefährliche Distanz. Eine Faustfeuerwaffe ist nicht gemacht, um Vögel zu schiessen, sondern um Menschen zu töten.»

Der Richer stellt weiter klar: «Der Beschuldigte hat explizit auf mehrere Personen gezielt. Seien es die beiden Passanten oder auch die beiden Polizisten kurz vor der Verhaftung.»

26.09.2024, 15:28 Uhr

Hülse mit Metalldetektoren gesucht

In Bezug auf die Widerhandlung gegen das Waffengesetz, erklärt der Richter, dass der Sachverhalt erstellt sei. «Es gibt diverse Beweismittel, so etwa die Aussage der Nachbarin, die Datenspuren des Handys und die Forensik.» Er stellt klar: «Es macht nichts, dass keine Hülse auffindbar war.» Laut dem Richter suchten Beamte den Bereich rund um das Wohnhaus, wo der Beschuldigte in den Teerboden schoss, sogar mit Metalldetektoren ab. «Aber es war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Es wurde viel weiteres Metall gefunden.»

Was sich am 28. Juni 2022 in Pratteln BL abspielte, hätte in einem Blutbad enden können: Völlig betrunken griff Antonio M.* (heute 50) am späteren Abend zu seiner geladenen Glock 19 – eine halbautomatische, einfach bedienbare Pistole. Mit elf von fünfzehn möglichen Patronen im Magazin verliess der Italiener gegen 22.30 Uhr seinen Wohnblock und begab sich zum naheliegenden Bahnhof.

Laut Anklageschrift der Baselbieter Staatsanwaltschaft begann Antonio M. dort zunächst wahllos auf Passanten zu schiessen – über die Gleise hinweg aus rund 40 Metern Distanz. Er verfehlte sie, auch weil die Opfer Schutz hinter parkierten Fahrzeugen suchten.

Danach nahm Antonio M. eine Gruppe junger Menschen – darunter den zum damaligen Zeitpunkt 20-jährigen Firat C.** – aus nächster Nähe ins Visier. Dass diese Zufallsopfer überlebten, grenzt an ein Wunder. Denn als der Schütze abdrückte, streikte die Waffe!

«Der Typ wollte mich erschiessen»

In der Anklageschrift wird klar, wie viel Glück die Opfer hatten. Beschrieben ist etwa, wie der als «skrupellos» beschriebene Schütze sich direkt vor Firat C. stellte und mehrmals abdrückte.

Wie der junge Mann den Angriff erlebte, kann er leider nicht selbst berichten. Rund ein Jahr nach dem Vorfall am Bahnhof verstarb C. an einem medizinischen Problem.

Sein Bruder Müslüm C. (31)** erinnert sich jedoch noch genau daran, wie geschockt er war, als er vom Tötungsversuch an seinem jüngeren Bruder hörte: «Am Tag danach meinte ich zu ihm: ‹Hey, hast du vom Vorfall am Bahnhof gehört?› Und Firat meinte: ‹Abi, der Typ wollte mich erschiessen. Ich bin eines der Opfer›.» Zunächst sei es Müslüm schwergefallen, seinem Bruder zu glauben – bis er dessen Angst wahrnahm.

Firat habe ihm berichtet, dass der Beschuldigte zunächst an der Gruppe vorbeilief, so Müslüm C. «Dann machte er meinem Bruder ein Kompliment. Der Typ meinte zu ihm: ‹Du hast schöne Haare.› Mein Bruder bedankte sich und dachte sich nichts dabei. Laut Firat war der Typ sturzbetrunken.» Gemäss Anklage hatte Antonio M. rund 1,6 Promille im Blut.

«Ich dachte, das wars!»

Plötzlich habe der Beschuldigte angefangen, Firat C. als Terroristen zu beschimpfen. «Dann trat er zu meinem Bruder und versuchte, ihn abzuknallen», so Müslüm C. Firat sei starr vor Schreck stehengeblieben. Seinem Bruder habe Firat völlig aufgelöst erzählt: «Ich dachte, das wars! Der Typ lud die Waffe, ich machte die Augen zu, er drückte ab. Mehrmals. Doch es passierte nichts.»

Laut Anklage zielte Antonio M. danach auf zwei Freundinnen von Firat C. – und wollte sie aus naher Distanz per Kopfschuss töten. Doch wie Firat überlebten auch sie dank der Ladehemmung der Waffe.

Zudem richtete Antonio M. die Waffe auch mehrere Male gegen seinen eigenen Kopf und drückte den Abzug. Doch die Waffe klemmte weiterhin. Irgendwann ergab sich der Schütze der ausgerückten Polizei.

Antonio M. kam für dreieinhalb Monate in U-Haft und wurde danach unter Auflage von Ersatzmassnahmen entlassen. Unter anderem muss er sich einer ambulanten psychiatrischen Behandlung unterziehen und dem Alkohol fernbleiben.

Rasche Haftentlassung

Diese rasche Haftentlassung des Täters habe seinem Bruder zu schaffen gemacht, so Müslüm C. «Firat fühlte sich unsicher. Seine grösste Angst damals: Im Quartier auf den Täter zu treffen. Schliesslich wohnen wir alle in Pratteln.»

Müslüm C.s Wunsch: «Der Täter soll eine gerechte Strafe erhalten und diese dann auch wirklich absitzen.»

Joël Naef, der Anwalt von Antonio M., weiss von der Kritik zur Haftentlassung. Zu Blick sagt er: «Aus Sicht des Betroffenen ist dies sicherlich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Allerdings gilt es sich vor Augen zu halten, dass die U-Haft nicht einer vorweggenommenen Bestrafung dient.» Die Ersatzmassnahmen habe sein Mandant «sehr positiv» aufgenommen. «Insbesondere die Therapie hilft ihm sehr.» Sein Mandant setze sich intensiv mit dem Geschehen auseinander. «Er würde es gerne rückgängig machen. Die Situation belastet ihn und mit den Betroffenen hat er Mitgefühl.»

Waffe sei legal erworben

Was der Auslöser für die Tat war? «Darauf kann sich mein Mandant selbst keinen Reim machen», sagt Anwalt Naef. «Gemäss Gutachter war seine Schuldfähigkeit schwerwiegend eingeschränkt.»

Am Mittwoch muss sich Antonio M. vor dem Strafgericht in Muttenz verantworten – wegen mehrfach versuchter vorsätzlicher Tötung, Gefährdung des Lebens, Schreckung der Bevölkerung sowie mehrfacher Widerhandlung gegen das Waffengesetz, weil Antonio M. keine Waffentragbewilligung für die auf ihn registrierte Glock verfügte. Laut Anwalt Naef hat der Beschuldigte die Glock lange vor dem Vorfall legal in der Schweiz erworben. Blick ist an der Verhandlung dabei und berichtet live.

* Name geändert
** Namen bekannt 

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