Über braun gebrannten Köpfen schwebt ein riesiger Bauarbeiterhelm, das Pfeifkonzert ist lauter als jeder Presslufthammer. «Mehr Lohn, weniger Gestürm», heisst es auf einem Banner, «Wer baut, bestimmt» auf einem anderen. Das Limmatquai gestern Samstag: ein rotes Fahnenmeer.
Tausende Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter aus der ganzen Schweiz sind nach Zürich gekommen, um ihre Bereitschaft im bevorstehenden Arbeitskampf zu markieren. Es geht um den neuen Gesamtarbeitsvertrag, der Ende Jahr ausläuft. «Wir fordern bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn», sagt Vorarbeiter Xhafer Sejdiu (51) zu SonntagsBlick. Der Termindruck auf den Baustellen habe in den letzten Jahren massiv zugenommen. Nun sei es genug. «Geht es so weiter, ist an ein Familienleben bald nicht mehr zu denken.»
Gesamtarbeitsvertrag gekündigt
Auch am Zürcher Flughafen brodelt es, und zwar gewaltig. Letzte Woche kam es zum Knall, als Angestellte des Bodenabfertigers Swissport den Gesamtarbeitsvertrag kündigten. Jetzt plant die Belegschaft Proteste, Blockaden und Warnstreiks. Wie auf dem Bau lauten die Forderungen: mehr Lohn und eine bessere Work-Life-Balance. «Die Arbeitgeber waren stets der Meinung, dass sie für noch weniger Geld noch flexiblere Arbeitnehmer finden», sagt Stefan Brülisauer von der Gewerkschaft VPOD Luftverkehr. «Da haben sie sich getäuscht.»
Alles deutet also auf einen heissen Lohnherbst hin. Auch der langjährige Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner (69) sieht ihn kommen: «Wenn Lohnerhöhungen fällig sind, dann jetzt.» Der St. Galler SP-Ständerat vergleicht die heutige Gemengelage mit jener zu Beginn der Nullerjahre. Die Schweiz hatte damals gerade eine Krise hinter sich, die Beschäftigungssituation war rosig, und nach zähem Ringen ging es endlich aufwärts mit den Löhnen. Rechsteiner: «Heute besteht ähnlicher Nachholbedarf.»
Arbeitnehmer mit besseren Karten
Im Poker um bessere Arbeitsbedingungen haben Arbeitnehmer derzeit klar die besseren Karten. Ihr Ass: der Fachkräftemangel. Doch die Arbeitgeber spielen auf Zeit. Den «heissen Lohnherbst» hält Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt (62) für warme Luft. «Es wird so sein wie jeden Herbst», sagt er. «Die einzelnen Unternehmen entscheiden, ob sie sich Lohnerhöhungen leisten können oder nicht.» Vogt rechnet mit einer Abkühlung der Konjunktur: «Die Aussichten verdüstern sich zunehmend.» In China dominiere immer noch Corona, der Krieg in der Ukraine sei Gift für die globale Wirtschaft. «Die Gewerkschaften stellen bedauerlicherweise völlig unrealistische Lohnforderungen, die bei den Arbeitnehmenden falsche Hoffnungen wecken.»
Bei der aktuellen Teuerung mindestens vier Prozent mehr Lohn. So lautet die Forderung der Gewerkschaft Unia. Deren Präsidentin Vania Alleva (53) sagt: «Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt unterschätzt die Situation.» Er habe keine Ahnung von den Problemen, mit denen sich die Arbeitnehmenden mit tiefen und mittleren Einkommen herumschlagen müssten. Für eine vierköpfige Familie seien die Veränderungen dramatisch, ihr fehlten Ende Jahr 3000 Franken im Portemonnaie, rechnet Alleva vor. «Bei Topverdiener Vogt fällt die Teuerung nicht so ins Gewicht.»
Auch VPOD-Gewerkschafter Stefan Brülisauer zeigt sich unbeeindruckt: «Es ist naiv zu glauben, dass in dieser angespannten Lage von Inflation und Arbeitskräftemangel ein Lohnherbst wie jeder andere stattfinden könnte.»