Der Sommer ist da, die Corona-Einschränkungen sind in den meisten Ländern abgeschafft. Viele Schweizer wollen deshalb endlich weg in die Ferien. Doch muss man das grosse Chaos erwarten, wenn man mit dem Flieger verreist? Philippe Strässle (54), Fluggastrecht-Vertreter und Geschäftsführer des Portals Airhelp Schweiz: «Man muss damit rechnen, dass dieses Jahr nicht alles reibungslos abläuft. Die Zeichen stehen auf Sturm.»
Viele Probleme rühren daher, dass Firmen wegen Corona Personal entliessen – und jetzt mit den Einstellungen der Nachfrage hinterherhinken. Das gilt für die Airlines, aber auch für das Personal am Boden. «Die drei grossen Flughäfen in der Schweiz sind alle mehr oder weniger gleich betroffen», sagt Strässle. «In Zürich, Genf und Basel habe ich auch schon selber schlechte Erfahrungen gemacht dieses Jahr.»
«Ich überlege mir, wieder nach Hause zu fliegen»
Pech hatte auch Fabio Blasi (38) aus Zürich: Er flog am Freitag mit KLM von Zürich nach Amsterdam und von dort weiter nach Norwegen. Mit grossen Verspätungen hatte er nicht zu kämpfen, aber am Zielort angekommen, fehlte vom Gepäck jede Spur. «Seither gehe ich jeden Tag zum Flughafen, um nach meinem Koffer zu fragen. Doch die Airline kann mir nicht einmal sagen, wo sich das Gepäck befindet.»
Auch vier Tage später hat Blasi keinen Bescheid. «Eigentlich wollte ich wandern und andere schöne Dinge unternehmen, aber die Wanderschuhe sind im Gepäck. Jetzt überlege ich mir, wieder nach Hause zu fliegen. Die Ferien sind futsch. Ich kann es so ja nicht geniessen.»
Amsterdam: Warteschlangen bis auf die Strasse
Die schlimmen Horror-Storys kommen derzeit aus dem Ausland. So erleben die Passagiere am niederländischen Flughafen Amsterdam-Schiphol etwa seit Wochen ein gewaltiges Chaos. Die Warteschlangen sind teilweise so lang, dass sie bereits Hunderte Meter vor dem Flughafengebäude beginnen.
Für die Passagiere bedeutet das stundenlange Wartezeiten – und manche verpassen ihre Flüge. Die Verantwortlichen zogen schliesslich die Notbremse und verfügten eine Reduktion der Passagiere, die über den Flughafen reisen dürfen. In der Folge werden zahlreiche Flüge gestrichen. Unzählige Ferienträume platzen.
London: Gepäckberge türmen sich
Auch der Londoner Flughafen Heathrow operiert teilweise nahe am Kollaps. Auf Social Media machen Fotos und Videos die Runde, die meterhohe Gepäckberge im Flughafengebäude zeigen. Schuld an diesem Zustand am vergangenen Freitag sei ein Problem mit dem Gepäcksystem gewesen, hiess es in einer offiziellen Stellungnahme des Flughafens. Die Passagiere hätten teils ohne ihr Gepäck reisen müssen, man arbeite aber eng mit den Airlines zusammen, und die betroffenen Passagiere würden ihr Gepäck innerhalb von zwei Tagen zugeschickt bekommen.
Der Chef von Heathrow warnt, dass Flugpassagiere in Grossbritannien und in Europa bis zu 18 Monate lang mit Beeinträchtigungen rechnen müssen. So lange wird es seiner Ansicht nach dauern, bis die gesamte Branche ihre Kapazitäten wieder auf den Stand von vor der Pandemie gebracht hat.
Berlin: Rekordverdächtige Wartezeiten
Auch in Deutschland kommt es teilweise zu massiven Problemen. Der frühere «Bild»-Chefredaktor Kai Diekmann (57) twitterte am Montag vom Flughafen Berlin Brandenburg, er habe ja schon vieles erlebt. Aber «das Chaos-Level heute früh ist schon beeindruckend». Seinen Angaben zufolge waren die Security-Checks nur zu einem Bruchteil besetzt und die Wartezeit betrug nirgends unter einer Stunde.
Auf anderen deutschen Flughäfen brauchen die Passagiere ebenfalls Nerven aus Stahl. Auch aus Hamburg kommen Berichte über ein Koffer-Chaos. Zahlreiche Gepäckstücke stapeln sich dort in der Ankunftshalle. In Düsseldorf mussten aufgrund von Personalmangel in den letzten Tagen zahlreiche Flüge gestrichen werden.
Brüssel: Streik legt Flughafen lahm
Am Flughafen in Brüssel strandeten am Montag 70'000 Passagiere. Der Grund war in diesem Fall ein nationaler Streiktag der Gewerkschaften, an dem sich auch das Sicherheitspersonal beteiligte.
Eine Sprecherin des Flughafens appellierte an die Fluggäste, sich gar nicht erst auf den Weg zum Flughafen zu machen. Sämtliche Abflüge des Tages wurden gestrichen.
Drohendes Malle-Desaster
Auf beliebten spanischen Ferieninsel Mallorca droht in den nächsten Wochen ein Chaos, wie «Bild» berichtet. Der Grund ist, dass bei mehreren Fluggesellschaften Streiks geplant sind. An mehreren Tagen werden die Flüge dreier Airlines sogar gleichzeitig ausfallen.
Los gehts am kommenden Freitag mit einem dreitätigen Streik bei Ryanair. Ab dem 30 Juni soll bei der Airline erneut für drei Tage die Arbeit niedergelegt werden. Auch bei Easyjet wurden mehrere Streik-Termine verkündet. Wie die spanische Gewerkschaft Uso mitteilt, will das Kabinenpersonal der Fluggesellschaft zwischen dem 1. und 3. Juli, dem 15. und 17. Juli sowie dem 29. und 31. Juli Streikmasssnahmen ergreifen. Neben Palma de Mallorca sind demnach auch die Easyjet-Standorte Barcelona und Málaga betroffen. Bei Lauda Air sind für den ganzen Juli jedes Wochenende Arbeitsniederlegungen angekündigt.
Swiss: 100 Sommer-Flüge gestrichen
Die Fluggesellschaft Swiss hat bereits auf die Personalknappheit reagiert und im Sommer rund 100 Flüge gestrichen. Von den Annullierungen und Änderungen sind insgesamt 30'000 Passagiere betroffen, knapp 10'000 davon von Streichungen.
Die britische Billig-Airline Easyjet hat unlängst ebenfalls Flugstreichungen angekündigt. Grund für die Kapazitätsbeschränkung sei der Personalmangel an den Flughäfen, wie es hiess.
Die Grossen triffts heftiger
Die coronabedingten Entlassungen treffen laut Reise-Experte Strässle tendenziell die grössten Flughäfen wie in Amsterdam, Paris oder London am meisten. «Doch auch Zürich ist leider nicht ausgenommen.» Die Flughäfen mit wenig Verkehr können es laut Strässle vermutlich noch am besten abfedern. «Ich denke zum Beispiel an Bern-Belp oder Altenrhein.»
Der Flughafen Zürich sieht der Ferienzeit gelassen entgegen. Sprecherin Bettina Kunz: «Am Flughafen Zürich sind wir vorbereitet auf die Sommerreisezeit.» Man habe «grundsätzlich» genügend Personal im Einsatz. «In diesem Zusammenhang kommt uns zugute, dass wir während der Pandemie kaum Personal entlassen mussten, da wir Kurzarbeit beantragen konnten.»
«Personalsituation bleibt angespannt»
Auch beim Euroairport Basel besteht laut Sprecherin Manuela Witzig «aktuell kein akuter Personalmangel». Trotzdem: «Die Personalsituation in der Touristikbranche bleibt angespannt. Die Erholung der Passagierzahlen verläuft teilweise schneller als der Aufbau der Ressourcen.» Man erwarte beim Euroairport «für den sehr herausfordernden Sommerbetrieb grundsätzlich funktionierende Abläufe, wenn auch Wartezeiten in Spitzenzeiten zu erwarten sind», sagt Witzig.
Um Komplikationen möglichst zu vermeiden, empfiehlt Reise-Experte Strässle unbedingt, das Self-Check-in zu Hause zu machen und das Gepäcketikett am Flughafen nach Möglichkeit selber auszudrucken. «Man sollte unbedingt auch mehr Zeit einrechnen. Wenns dann nicht nötig war, ist es auch gut. Aber man sollte unbedingt eine Stunde früher als normal zum Flughafen. Insbesondere am Freitag oder Samstag, wenn ein besonders hohes Passagieraufkommen herrscht.»