«Normale Mitarbeiter werden wie Dreck behandelt»
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Galaxus-Angestellte packen aus:«Mitarbeiter werden wie Dreck behandelt»

Angestellte von Digitec Galaxus am Anschlag
Pakete packen, bis die Sanität kommt

Die Konsumenten erwarten, dass Onlinebestellungen tags darauf im Briefkasten liegen. Den Preis dafür bezahlen die Angestellten in der Logistik, wie Recherchen von SonntagsBlick zeigen.
Publiziert: 15.05.2022 um 00:54 Uhr
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Aktualisiert: 15.05.2022 um 12:28 Uhr
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Digitec Galaxus ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen und die klare Nummer eins im Schweizer Onlinehandel. Den Preis dafür bezahlen die Angestellten in der Logistik.
Foto: Igor Kravarik
Thomas Schlittler

Digitec Galaxus will keine Firma sein wie jede andere. «Piratisch» lautet das Lieblingswort der PR-Abteilung, die mit frechen Werbekampagnen das Image des unkonventionellen Start-ups pflegt.

Zumindest in einem Bereich hat Digitec Galaxus in der Schweiz tatsächlich neue Massstäbe gesetzt: Wer bis 19 Uhr bestellt, hat das Paket in der Regel am nächsten Tag im Briefkasten. Dieser Leitkodex hat wohl massgeblich dazu beigetragen, dass der Onlinehändler, der von der Windel bis zum Hightechfernseher alles verkauft, seit der Gründung 2001 ein beeindruckendes Wachstum hingelegt hat.

Corona hat Digitec Galaxus zusätzlichen Schub verliehen. 2019 knackte das Unternehmen, das seit 2015 mehrheitlich der Migros gehört, erstmals die Umsatzmilliarde. 2021 verkaufte man bereits Waren im Wert von 2,1 Milliarden Franken. Damit ist der Konzern die klare Nummer eins im Schweizer Onlinehandel.

«Alles voll auf Leistung»

Doch dieses Wachstum gibt es nicht umsonst: Den Preis dafür bezahlen die Angestellten in der Logistik. Diese fühlen sich vom selbst ernannten Piraten-Konzern je länger je mehr ausgebeutet, wie Recherchen von SonntagsBlick zeigen. Ein halbes Dutzend Mitarbeitende des Digitec Galaxus-Logistikcenters im aargauischen Wohlen berichten unabhängig voneinander, dass die Arbeitsbedingungen teilweise unzumutbar geworden seien.

Fabrizio* (28), seit fünf Jahren in Wohlen, beschreibt es so: «Als ich angefangen habe, konnte man auch mal einen Fehler machen, ohne dass daraus sofort ein Drama gemacht wurde. Auf ältere oder angeschlagene Mitarbeiter wurde Rücksicht genommen. Jetzt ist dagegen alles voll auf Leistung getrimmt.» Es gehe nur noch um die Kundenzufriedenheit, und dafür werde der Druck auf die Mitarbeiter ständig erhöht.

Martina* (34), ebenfalls seit fünf Jahren dabei, wird konkret: «Früher musste man beim Wareneingang 70 Artikel pro Stunde scannen. Heute beträgt das Soll 205 Artikel pro Stunde.» Das habe zwar auch damit zu tun, dass die Prozesse angepasst worden seien. Die Anforderungen seien aber definitiv höher geworden.

Das meint Blick zu den Arbeitsbedingungen bei Digitec Galaxus

Überwachung per Ampelsystem

Zahlen für das ganze Unternehmen stützen diese Wahrnehmung: 2017 erzielte Digitec Galaxus pro Kopf einen Umsatz von 995'000 Franken, 2021 lag dieser Wert bei 1'205'000 Franken.
Wer wie viele Artikel scannt, wird mit einem Ampelsystem systematisch überwacht. Schafft man 205 Artikel pro Stunde oder mehr, leuchtet die Ampel grün. Bei 195 bis 204 Artikel wird sie gelb. Bleibt man darunter, dreht man im roten Bereich. Martina: «Wer das Soll von 205 Artikeln pro Stunde über längere Zeit nicht erreicht, hat ein Problem.» Leute, die ihre Ziele über drei, vier Monate hinweg nicht erreichten, hätten auch schon die Kündigung erhalten.

Damit es gar nicht erst so weit kommt, werden die Angestellten an der kurzen Leine gehalten. Während die Büro-Schweiz im Homeoffice neue Freiheiten geniesst, erinnert das Regime in Wohlen an eine Galeere. «Man ist immer unter Beobachtung», sagt Julie* (23), die seit zwei Jahren hier arbeitet. Die Schichtleiter hätten in ihrem Büro Fenster, aus denen sie alles überblicken können. «Wenn man mal zwei, drei Minuten mit jemandem redet, kommt sofort der Teamleiter und sagt: ‹Wir haben genug Arbeit.›»

Auch Telefonieren am Arbeitsplatz sei nicht gern gesehen und je nach Chef sogar verboten, ergänzt Martina. «Wer aufs WC muss oder eine Zigarette rauchen will, ist zudem dazu verpflichtet, sich bei seinem Vorgesetzten abzumelden. Fürs Rauchen muss man selbstverständlich auch ausstempeln.» Immerhin: Vor einigen Wochen hat die Betriebskommission erreicht, dass die Mitarbeiter im Wareneingang nicht mehr ausstempeln müssen, wenn sie für ihre Trinkflasche neues Wasser holen wollen.

Das Privatleben leidet

Ein anderes Problem ist aber geblieben: Weil Digitec Galaxus so schnell wächst, kommen im Wareneingang oft mehr Artikel an, als in fünf Tagen abgearbeitet werden können. Es werden deshalb regelmässig sechs Arbeitstage verlangt – und das meist sehr kurzfristig. Fabrizio: «Sie sagen uns zum Beispiel am Donnerstag, dass am Samstag nicht gearbeitet werden muss. Am Freitag heisst es dann aber plötzlich, dass wir am Samstag doch kommen müssen.» Einen Zwang gebe es zwar nicht. Insbesondere wenn man Minusstunden habe, könne man sich aber kaum dagegen wehren. «Darunter leidet natürlich das Privatleben. Pläne für das Wochenende sind unmöglich.»

Noch härter zu und her geht es im Pick Tower, wo die Pakete der Kunden zusammengestellt werden. «Hier muss man besonders zackig unterwegs sein, um die Vorgaben zu erfüllen», weiss Julie, die bereits in mehrere Abteilungen hineingesehen hat. Als ein Kollege aus dem Wareneingang zum ersten Mal im Pick Tower gewesen sei, habe er sie gefragt: «Wieso rennen hier denn alle?» Julie hat auch schon miterlebt, wie jemand bei der Arbeit zusammengeklappt ist. Wie oft das passiert, weiss sie jedoch nicht.

Einen besseren Überblick hat in dieser Hinsicht Larissa* (26). Sie ist Betriebssanitäterin und bekommt deshalb sehr viele Fälle mit. Sie sagt: «Vor allem im Sommer klappt alle paar Tage jemand zusammen, insbesondere im Packing, wo es teilweise sehr warm wird und die Arbeit körperlich sehr anstrengend sein kann.»

Stosslüften und Einsatz eines Kühlaggregats

Die Aussagen schockieren. Sind kollabierende Logistikangestellte tatsächlich der Preis dafür, dass wir unser Päckli innert 24 Stunden – oder schneller – im Briefkasten haben?

Digitec Galaxus weiss von solchen Vorfällen und bestreitet sie nicht: «2020 und 2021 gab es im Logistikzentrum Wohlen jeweils rund 30 dokumentierte Fälle von Übelkeit, Kreislauf- oder Blutdruckproblemen, bei denen eine Betriebssanitäterin oder ein Betriebssanitäter im Einsatz war», sagt Sprecher Stephan Kurmann. Dabei stelle man eine gewisse Häufung im Juli fest. «Wir gehen davon aus, dass dies daran liegt, dass es im Bereich Packing im Sommer sehr warm wird.»

Digitec Galaxus habe bereits Massnahmen ergriffen: Neben Stosslüften und dem Einsatz eines Kühlaggregats seien an den Arbeitsplätzen Ventilatoren aufgestellt worden. Zudem gebe es Wasserspender, damit die Mitarbeitenden ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen können.

Der Onlinehändler betont, dass man solche Fälle sehr ernst nehme. Gleichzeitig ist das Unternehmen jedoch der Meinung, dass die Fallzahlen der letzten Jahre tief seien für einen Logistikbetrieb. «Die Fallzahlen in der Logistik sind gleich hoch wie im Büro», sagt Kurmann. Zudem seien die Zahlen stabil geblieben, trotz verdoppelter Mitarbeiterzahl. Das Unternehmen rechnet die Zahlen klein: «Bei rund 100 000 Arbeitstagen, die in unserem Logistikzentrum jedes Jahr in Summe gearbeitet werden, bedeuten 30 Fälle, dass an 0,03 Prozent aller Tage jemand an Übelkeit, Kreislauf- oder Blutdruckproblemen leidet.»

Das Risiko, von einem Piratenschiff überfallen zu werden, ist noch deutlich geringer. Jene, die es trifft, haben davon aber wenig.

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Kein Interesse an Fachkräften

In Wohlen dürften die Betroffenen meist Temporärangestellte sein. Diese werden in der Regel Ende August angeheuert und möglichst rasch fit gemacht für den grossen Ansturm am Black Friday und an Weihnachten. «Sie sind nur für ein paar Monate hier und haben es am schlimmsten», sagt Fabrizio.

Larissa macht dafür in erster Linie die Gruppenleiter verantwortlich: «Manche tun alles, um noch mehr aus den Temporären herauszuholen. Sie sagen: ‹Hey, wenn du dir Mühe gibst, kriegst du einen Fixvertrag.› Dabei wissen sie ganz genau, dass dies alles andere als sicher ist.» Ende Januar müssten die Temporären in der Regel wieder gehen – und im August werden wieder 200 bis 300 neue Leute geholt.

Die vielen Temporären erachten die Mitarbeitenden, mit denen SonntagsBlick gesprochen hat, als eines der Grundsatzprobleme von Digitec Galaxus. «Das Unternehmen hat schlicht kein Interesse an mehr Festangestellten», glaubt Larissa. Denn dadurch nehme die Flexibilität ab. «Die Temporären können überall eingesetzt werden, ob im Wareneingang, im Pick Tower oder im Packing – wo es sie gerade braucht. Und die beschweren sich auch nicht, weil sie auf den Job und das Geld angewiesen sind.»

Arbeitsatmosphäre positiv?

Firmensprecher Stephan Kurmann wehrt sich gegen diese Vorwürfe: «Wir versuchen, möglichst viele Mitarbeitende mit Festanstellung zu beschäftigen. Wir benötigen aber auch temporäre Mitarbeitende, um die starken Schwankungen abdecken zu können.» Seit 2020 bis heute habe Digitec Galaxus 400 Temporäre in feste Arbeitsverhältnisse übernommen, das seien 55 Prozent aller temporären Mitarbeitenden, die das Unternehmen in diesen Jahren befristet eingestellt habe.

Weiter betont Kurmann, dass die Arbeitsatmosphäre im Logistikzentrum in Wohlen mehrheitlich als positiv wahrgenommen werde: «Die Ergebnisse der letzten Mitarbeiterbefragung von 2021 zeigen auf, dass die Zufriedenheit unserer Mitarbeitenden im Marktvergleich auf einem hohen Niveau liegt und im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist.»

Die Mitarbeitenden, die SonntagsBlick gesprochen hat, trauen den Ergebnissen der Mitarbeiterbefragungen jedoch nicht. Sie sagen, dass diese teilweise in Anwesenheit der Teamleiter ausgefüllt worden seien und sich viele Leute deshalb nicht trauen würden, ihren Unmut kundzutun. Ganz generell hat zumindest ein Teil der Angestellten in Wohlen das Gefühl, von ihren Vorgesetzten nicht gehört zu werden. Das ist der Grund, wieso sie sich für den Gang an die Öffentlichkeit entschieden haben. Betriebssanitäterin Larissa ist überzeugt: «Ich glaube nicht, dass das Management in Zürich weiss, was in Wohlen abgeht.»

Spätestens jetzt wissen alle Bescheid. Die Frage ist, wie die Kapitäne in der Limmatstadt auf den Notruf aus dem Aargau reagieren werden.

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