Bis zum 4. Juni dürfen die 2,3 Millionen Genossenschafterinnen und Genossenschafter darüber abstimmen, ob in ihrer Migros Alkohol verkauft werden soll. Die Diskussion wird breit geführt, mit der Nein-Parole der EVP hat sich diese Woche sogar eine politische Partei zu Wort gemeldet. Noch einmal lebt damit der Mythos von der Migros als einer ganz speziellen helvetischen Institution auf.
Warum beschloss die Migros vor beinahe hundert Jahren eigentlich, keine alkoholischen Getränke anzubieten? Zu 70 Prozent aus Geschäftssinn, zu 30 Prozent aus politischem Kalkül. Ende der 1920er-Jahre bot sich dem Unternehmen die Gelegenheit, eine bankrotte Süssmostfabrik zu übernehmen. So entstand die Idee, den Süssmost landesweit als gleichermassen günstige wie gesunde Alternative zu Bier und Wein zu bewerben. «Aus dem Nischenprodukt wurde nicht nur ein Volksgetränk, sondern eine Art Markenartikel, dessen Qualitätsimage darauf basierte, dass es keinen Alkohol enthielt», heisst es in einem Aufsatz des kürzlich verstorbenen Historikers Thomas Welskopp. «Wie in anderen Bereichen erwuchs hier eine Kampagne für die Verbreitung gesundheitsfördernder Getränke ‹after the fact›. Auch in anderen Bereichen hängte sich die Marketingstrategie der Migros an lebensreformerische und sozialhygienische Bestrebungen an – wenn sich damit ein kommerzieller Erfolg verbinden liess.»
Hinzu kommt: Die Migros stand in ihren früheren Jahren unter dem Druck der Behörden. Als Discounter stellte sie die überkommenen Geschäftsgewohnheiten auf den Kopf, zum Schutz der alten Lädeli erliess der Bundesrat zeitweise gar ein Verbot, weitere Filialen zu eröffnen. In diesem angespannten Umfeld wollte man sich als Firma profilieren, die sich nicht allein am Umsatz orientiert, sondern ebenso am Gemeinwohl.
Im Dezember 1950 publizierten Firmengründer Gottlieb und seine Frau Adele Duttweiler 15 Thesen, worin sie die moralischen Werte und die Ziele der Migros festhielten. Vom Alkohol ist darin nirgendwo die Rede, hingegen steht unter Punkt zwölf: «Die Löhne und Saläre wie auch die Arbeitsbedingungen und das Verhältnis zu der Arbeiter- und Angestelltenschaft müssen weiterhin vorbildlich sein. Unser allgemeines Bekenntnis, dass der Mensch in den Mittelpunkt des Wirtschaftens gestellt werden müsse, hat für unsere Genossenschaften besondere Gültigkeit.»
Im aktuellen SonntagsBlick schildert Wirtschaftsredaktor Thomas Schlittler, unter welch prekären Bedingungen in den Verpackungshallen von Digitec Galaxus im aargauischen Wohlen geschuftet wird. Von enormem Zeitdruck ist die Rede; wer auf die Toilette muss, braucht die Zustimmung des Vorgesetzten. Augenzeugen berichten von Kolleginnen und Kollegen, die bei der Arbeit zusammenbrachen.
Nun ist Digitec Galaxus mit einem Umsatz von über zwei Milliarden Franken im letzten Jahr nicht bloss der erfolgreichste Schweizer Onlinehändler. Auch befindet sich Digitec Galaxus zu 70 Prozent im Besitz der Migros.
Die Digitalisierung dient vielen Unternehmen als billiger Vorwand, sich ihrer sozialen Verpflichtungen zu entledigen. Es ist nur allzu offensichtlich, welchem Vorbild Digitec Galaxus nacheifert: Der amerikanische Amazon-Konzern steht wegen der miserablen Arbeitsbedingungen in seinen Logistikzentren weltweit in der Kritik – und wird an den Börsen gleichwohl (oder gerade deshalb) als eine der wertvollsten Marke überhaupt gehandelt.
Die Migros-Genossenschafterinnen und -Genossenschafter debattieren, ob die Kundschaft weiterhin einen kurzen Umweg zur Migros-Tochter Denner in Kauf nehmen muss, um an ihren Alkohol zu kommen. Richtig so! Noch wichtiger aber wäre es, wenn sie es nicht weiterhin tolerieren würden, dass Menschen in der Migros-Galaxie ausgebeutet werden.