Lieber FAM und Jubilar, unsere Nähe bleibt ein Wunder, denn unsere Herkünfte haben so wenig gemeinsam wie die Lebensläufe. Du: Arbeitersohn vom Jurasüdfuss; ich das verspätete Einzelkind eines pietistischen Primarlehrers, der gern Pfarrer geworden wäre und schliesslich froh sein musste, seine Gottesfurcht als Fortsetzungsromane in einem Lokalblatt zu verbreiten. Er hat die Depression seiner zweiten Frau, meiner Mutter, nicht überlebt, und als gelernte Krankenschwester wollte sie danach nur noch für mich da sein und bezahlte meinen Aufstieg mit Nachtwachen in besten Häusern. So wurde ich brav Gymnasiast, Offizier, Professor gar – meine Schreibversuche empfand sie eher als Störung, und erste Lieben verschwieg ich ihr wohlweislich. Wir gaben beide, was wir hatten, aber unser Kontakt blieb freudlos. Dagegen war Deine Jugend, glaube ich, eine wahre Lebensschule. Die Uhren, an denen der Vater arbeitete, hätte er selbst nie kaufen können, aber er nahm sie sogar in den Feierabend mit, beteiligte die Familie an der Fertigung und politisierte dazu – Bakunin, der Anarchist, war nicht umsonst im Jura vorbeigekommen.
Mit dieser Verbindung von gutem Nutzen, kunstvoller Arbeit und Selbstbewusstsein bist Du in Biel-Bienne aufgewachsen. Die Schriftsetzerlehre diente Deiner Zukunft besser als eine Matur, denn da lerntest Du das Bleigewicht von Buchstaben in der Hand fühlen und den Satz genau ansehen, zu dem sie sich fügen mussten. An den Wörtern, die Du setztest, bildetest Du Dich selbst zum wirksamen Sprachgebrauch. So sah das familiäre Muster aus, das Dich als Publizisten zur «Marke» gemacht hat und zu einem Zeiger, nach dem Medienleute, aber auch Politiker ihre Uhr stellen.
Frank A. Meyer – die Kolumne
Ich neide Dir diesen Erfolg nicht. Du hast als Steuermann eines «öffentliche Meinung» genannten Perpetuum mobile eine wahre Sisyphusarbeit verrichtet. Und musstest so tun – und auch noch glaubhaft –, als sei das nichts weiter als Deine Bürgerpflicht. Und dafür ernte man eben, um eine Demokratie ehrlich zu machen, Widerstand und Widerspruch. Solche Richtigstellungen hält die Community leicht für überheblich, und dass sie Dir, bei vollem Ernst, auch noch Spass, nein: Freude machen, bleibt unverzeihlich. Sisyphus sei glücklich, meint Camus. Für Deine Mission hast Du Dir die richtigen Mitmacher zugleich gefunden und geschaffen, als junger Journalist im Bieler Büro Cortesi, später im Bundesrat, definitiv aber im Hause Ringier, als lebenslanger (Kant hätte gesagt: lebenswieriger) Berater und Freund deines Chefs Michael. Da ist mehr als Loyalität am Werk, nämlich Rücksicht und Freundschaft. Und sie hat ihr Produkt seit der «Wende» über halb Europa verbreitet, vor allem: im wiedervereinigten Deutschland.
Im alten Frankenreich der Merowinger wäre aus einem Majordomus regelmässig der reale Hausherr geworden; dazu hast Du es nie kommen lassen, aus Selbsteinsicht – und Geschmack. Ein wahrer Herr hat es nicht nötig, über andere zu herrschen, denn dabei ginge ihm sein Bestes verloren, nennen wir es: die Narrenfreiheit des Urteils und der Neugier. Wie ernst, ja gravitätisch sie sein kann, lese ich in Deinen Kolumnen, höre ich alle Jahre im August wieder an Deinem «Dîner républicain» in Ascona, habe ich aber auch am eigenen Leib erfahren: im «Vis-à-vis»-Gespräch auf 3sat, wobei ich das letzte (mit Dir selbst) das beste fand. In Milieus, für die «Fraternité» ein Fremdwort ist, sieht Deine Rhetorik überheblich, eitel oder wie Hexerei aus, weil Du so viel Wert darauf legst, dass sie mit Kumpanei nicht zu verwechseln sei. Dabei hast Du die Zweisprachigkeit Deiner Herkunft mitgenommen: Jede Wirklichkeit, die einen Kommentar wert ist, existiert nicht nur zwei-, sondern vielsprachig.
Genossen der Liebe zur Kunst
Da kommt auch Deine Passion für ein vereinigtes Europa her. Dabei bleibt Dir bewusst, was der Physiker Niels Bohr über wahre Sätze gesagt hat: Man erkenne sie daran, dass das Gegenteil genauso wahr sei. Auch der gute Journalist weiss, dass mit Canceln nichts getan ist, aber viel verdorben wird; und dass, wenn zwei das Gleiche sagen, es nie das Gleiche sein kann. Die Wirklichkeit spottet simpler Gleichungen, darum ist für Dich, beispielsweise, die SVP nicht die AfD und sind AfDler nicht gleich Nazis. Wer nicht sein eigener Spielverderber sein kann, wird nie ein guter Spieler. Nur in einem Fall stelle ich bei Dir einen hartnäckig blinden Fleck fest: beim Islam, der ja nicht nur islamistisch sein muss. Der Mann, der dem Algorithmus seinen (verballhornten) Namen leihen musste, hiess al-Chwarizmi und war ein persischer Universalgelehrter in Bagdad – zu einer Zeit, wo das islamische Andalusien die toleranteste Gegend Europas war, von christlicher Enge buchstäblich himmelweit entfernt: Nicht umsonst tragen die Sterne immer noch arabische Namen. Wer sich den geistigen Abstand des spanischen Kalifats von den christlichen Eroberern veranschaulichen will, braucht nur die Kirche von Córdoba zu betreten: Sie nimmt sich gegen die gewaltige Moschee, der sie eingepflanzt wurde, bei allem Prunk schofel aus. Und: Wo wäre die griechische Antike, wenn ihre schriftlichen Zeugnisse nicht unter islamischer Herrschaft Schutz gefunden hätten? Was den «Islamismus» betrifft, kann Dir heute bequem jeder recht geben. An diesem Narrativ bleibt nur viel Übriges, das Dir anderswo eine selbstkritische Reflexion wert wäre. Und die Bequemlichkeit hört auf, wenn man die Hyper-Orthodoxie vieler (nicht aller) Israelis heute am Schicksal des Gazastreifens misst.
In einer Hauptsache bleiben wir Genossen: der Liebe zur Kunst. Als höchste nannte Schiller die Lebenskunst. Sie ist nicht einmal das Gegenteil der heute so gesuchten Work-Life-Balance: Wer in der Arbeit kein Leben findet und im Leben keine Arbeit sehen kann, der ist blind auf beiden Augen und muss sie durch das Smartphone ersetzen, den zuverlässigen Zerstäuber aller realen Gegenwart in Zeit und Raum.
Die wichtige Rolle der Frauen
Höchste Zeit, diesen Geburtstagsgruss mit einer Verbeugung vor Deinen Frauen abzurunden. Die erste war Deine Mutter, nicht nur die Hausfrau eines Uhrmachers, sondern Mitarbeiterin an den Uhren, die er am Feierabend nach Hause nahm, und – neben allem Haushalt – Freundin seiner linken Gedanken, die nicht auf ein kommunistisches Manifest hinausliefen, sondern auf ein besseres Leben. Der kleine Frank hat diese Diskurse in sein Leben mitgenommen, in dem es nicht nur «Fränkli» geben durfte, sondern auch flotte Schlitten. Und wenn schon keinen Sitz im Bundeshaus, so doch eine Suite im Hotel Bellevue gleich daneben, von dem sich vieles durch richtige Kontakte steuern liess. Feine Dîners, auch alle Jahre wieder das Dîner républicain im Castello del Sole. Es ist keine Artus-Runde, dafür sind es der prominenten Ritter und Damen zu viele, doch Deine allseits erwartete Rede hält sie zusammen. Und der Europa-Preis ist eine starke Schlusspointe, bevor man sich – mit Polizeischutz – gemeinsam auf die Piazza von Locarno begibt, um dem Filmfestival die Ehre zu geben; manchmal ist sie auch ein Vergnügen.
Ja, der Macher – «Poet» bedeutet auf Altgriechisch nichts anderes –, auch noch self-made, verdient es, ein gemachter Mann zu sein, und er zeigt immer diskret, wie viel davon er seiner Frau verdankt, gerade weil sie es nicht darauf anlegt. Warum soll sich das Paar für die zweite Lebenshälfte kein Schloss in Berlin gönnen, wenn auch eins in Anführungszeichen? Aber doch in Charlottenburg (wo wir nach meiner Akademie-Zeit fast Nachbarn waren, besuchsfrei) und jedenfalls mit zwei Flügeln. Den einen bewohnt jetzt Lilith, die zweite Frau Deines Lebens, in schöner Zweieinigkeit, obwohl sie Frey hiess und auch frei bleiben will, mit ihrer eigenen Kunst der Worte und Bilder – und der grösseren Kunst, Dir zur Seite zu stehen; nur behält sie sich vor, auf welcher Seite. Deiner Mutter zu Ehren steht das A in FAM Deiner Marken-Initiale: für André, ihren Mädchennamen, im Gender zweideutig, wie alles Reale, und französisch, wie alles Aparte dabei. In Frankreich, wo Ihr natürlich ein Haus braucht, habt Ihr, wie ich höre, davor einen Olivenbaum gepflanzt. Eine Wurzel nährt zwei Stämme, die sich in Form und Wachstum deutlich unterscheiden, worüber man ganz schön philosophieren kann. Ich sage nur: Die erste Frau des ersten Menschen (der noch ein Mann sein musste) war, nach der Bibel, keine Eva, sondern eine Lilith, wohl babylonischer Herkunft – wie der berühmte Turm, wo die Menschheit ihre gemeinsame Sprache verbaut und verspielt haben soll.
Eine Geschichte zum Geburtstag
Eine schöne Geschichte. Aber diejenige, mit der ich Euch beide zu Franks 80. Geburtstag beschenken möchte, müsst Ihr Euch noch verdienen – durch Lektüre (am besten im Vorlese-Modus): Gottfried Kellers «Kleider machen Leute». Fast sicher habt Ihr sie schon gehabt, in Eurer Jugend, als den Schülern noch grosse Texte zugemutet wurden. Aber ich behaupte: Nein, diese wunderbare Novelle kennt Ihr noch nicht. Ihr habt erst viel davon leben müssen, um zu bemerken, wie sehr es Eure Geschichte ist. Oder beinahe, dafür schlüssig – wie das Leben nicht sein kann, die Kunst aber sein muss, um über ihre Fertigkeit auch noch lachen zu können.
Ich glaube, Ihr werdet das arme Schneiderlein wiedererkennen, das durch Umstände, für die es nichts kann, zum polnischen Grafen Wenzel Strapinski aufsteigen musste, vor allem wegen seines schicken Radmantels. Scham und Verlegenheit machen die ungesuchte Rolle immer glaubwürdiger und so nobel, dass Nettchen, die Tochter des reichen Amtmanns von Goldau, sich einfach in den Träger verlieben muss. Die Verbindung wäre auch Wenzel mehr als recht gewesen – wenn er nur wieder er selbst hätte sein dürfen. Jetzt aber verlangt seine Ehrlichkeit unbedingt, dass er vor der Falle unverdienten Glücks flieht, bevor sie zuschnappen kann. Und als er im Schnee zusammenbricht, wünscht er sich nichts Besseres, als für immer liegen zu bleiben. Aber Nettchen, die seine Handschuhe und Pelzmütze gehütet hat, wittert Unrat, sucht den Vermissten mit ihrem Schlitten, rettet ihn im letzten Augenblick und verhört ihn dann auch, natürlich an der Wärme, so lange, bis alle Missverständnisse gelöst sind. Und bald wird der falsche Graf als glücklicher Ehemann auch wieder Schneider sein dürfen, und mit Nettchens Mitgift darf es dann auch etwas mehr sein: Marchand Tailleur.
Man kann darin auch ein ironisches Selbstporträt Kellers lesen, der vom verunglückten Maler wider alles Erwarten ins bestbezahlte Staatsamt aufstieg. Doch eine Zeichnung aus der Münchner Taugenichtszeit zeigt ihn in eben dem Radmantel, in dem der kleine Dandy untergegangen wäre, hätte er ihn nicht als grosser Dichter dem armen Schneiderlein angehängt. Als Leser habe ich mir ein gutes Stück von diesem Mantel abschneiden können. Und glaube, für Euch, das glückliche Paar, steckt noch mehr darin.
Lieber Frank, unsere Namen haben die gleichen Initialen. Geschenkt – zu Deinem 80. Geburtstag von Deinem Bald-Neunziger
(Friedrich) Adolf Muschg
* Adolf Muschg ist ein Schweizer Dichter, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler.
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