Frank A. Meyer – die Kolumne
Politik der Verantwortung

Publiziert: 19.11.2023 um 00:07 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2023 um 08:18 Uhr

Er ist einer der kultivierten Parlamentarier im Bundeshaus, wenn nicht gar der kultivierteste: Gerhard Pfister, Intellektueller und Präsident der Mitte, ehedem Christlichdemokratische Volkspartei – CVP. Das Bekenntnis zur christlichen Herkunft seiner Partei muss hinzudenken, wer sich mit Gerhard Pfister beschäftigt, diesem bisweilen arrogant erscheinenden, in Wirklichkeit scheuen Politiker, der sich mit beeindruckender Intensität der demokratischen Kultur verpflichtet fühlt. 

Gerade jetzt wieder dokumentiert er diese Haltung durch seine sachlich-knappe Warnung an die Regierungsmitglieder der FDP: «Diese beiden Bundesräte müssen mit der Macht verantwortungsvoller umgehen.» Womit der Präsident der Mitte sagen will, es dürfe im Siebner-Kollegium nicht zur Blockpolitik von FDP und SVP kommen, da deren numerische Übermacht nach den Wahlen noch weniger legitimiert sei als zuvor.

In der Tat könnte Pfisters Mitte rechnerisch einen zweiten Bundesratssitz reklamieren, hat sie doch mit ihrem Wähleranteil den Freisinn eingeholt.

Doch Gerhard Pfister will keinen Bundesrat abwählen. Er will lediglich die Kultur von Kompromiss und Konsens in der Schweizer Regierungspolitik verankern – gemäss Kants kategorischem Imperativ: Handle so, wie du dir vorstellen kannst, dass es zur allgemein gültigen Regel werde. Der Christdemokrat formuliert diese Handlungsanleitung im SonntagsBlick-Interview so: «Nur weil man etwas kann, heisst das nicht, dass man es auch darf.»

Immanuel Kant aus Königsberg als Massstab für die Politik in Bern?

Es geht um die Kategorie des verantwortlichen Handelns. Gegenwärtig ist es weder durch Linksgrün noch durch Rechtspopulismus gewährleistet: auf der einen Seite klimagläubiger Antikapitalismus, ausgeformt als Bevormundung der Bürgerschaft; auf der anderen Seite zynische Problem-Bewirtschaftung, inszeniert als Alleinvertretungsanspruch auf den Volkswillen.

Beide Lager benötigen immer wieder parlamentarischen Beistand aus der Mitte. Umworben wird vornehmlich die FDP, einst tonangebend im Konzert der Konkordanz, inzwischen geschwächt durch Wahlergebnisse und bezirzt durch die Schalmeien der SVP.

Doch die Schweiz steht vor Problemen, deren Lösungen weder von links aussen noch von rechts aussen kommen können. Schon allzu lang verlustieren sich linksgrüne Kindsköpfe und rechte Machos mit Europapolitik, Migrationspolitik und Klimapolitik. Die Themen, die den Ernst der Zeit signalisieren, gehören in die Hände von Erwachsenen.

In die Hände der Verantwortungsparteien. 

Wer sind diese Parteien? Es sind, in der Schweiz, Freisinn, Mitte und Sozialdemokraten; es sind, in Europa, Liberale, Christdemokraten und Sozialdemokraten; es sind die politischen Kräfte, die sich der offenen Gesellschaft verpflichtet fühlen – der wirtschaftlich wie sozial gerechten Demokratie. 

Die historischen Verantwortungsparteien des europäischen Westens. 

Gerhard Pfisters Warnung, eine Politik nicht einfach zu betreiben, weil man es kann, beinhaltet im Umkehrschluss den Aufruf, zu tun, was getan werden muss – frei von kurzsichtiger Paktiererei, ganz aufs Notwendige fokussiert. Es wäre die Rückkehr der drei ebenso lang gedienten wie wohlverdienten politischen Familien in die eigenen Fussstapfen. 

Die Rückkehr der altehrwürdig-bürgerlichen Kultur in die Politik: Streit und Erkenntnis und Kompromiss und erneut Streit und neue Erkenntnis – Versuch und Irrtum als Dialektik des Fortschritts. 

Durch diese urdemokratische Dynamik bleibt kein Problem im Meinungsstreit der konkurrierenden Parteien ungenannt. Um es klassisch schweizerisch auszudrücken: freudvoll im Streit – und im Bewusstsein, was man nicht tut, obwohl man es kann. 

Ja, die Demokratie ist – auch dies frei nach Kant – die Ordnung der Unordnung. Sie ist die Anarchie der Vernunft. Dazu braucht sie umsichtige Hüter: 

Verantwortungsparteien.

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