Es war eine Gerichtsverhandlung mit ungleichen Kräfteverhältnissen: Auf der einen Seite standen ein Schweizer Rentner (Mitte 70) und sein Anwalt. Auf der Gegenseite die Betreiber des Kernkraftwerks Gösgen SO mit ihrer Rechtsabteilung. Streitpunkt: Das Kraftwerk und dessen grösster Aktionär, der Energiekonzern Alpiq, haben Hunderten pensionierten Angestellten Zuschläge zu ihren Renten gekürzt. Manchen Rentnern wurden die Überweisungen monatlich um drei- oder vierstellige Beträge gestutzt – und das nach Jahren und Jahrzehnten!
Beim erwähnten Senior ging es vor Gericht um 5500 Franken, die ihm bisher insgesamt nicht ausbezahlt wurden. Das liess sich der Ingenieur, der zwei Jahrzehnte im Kernkraftwerk Gösgen gearbeitet hat, nicht bieten. Und er bekam vom Richteramt Olten-Gösgen Anfang Juni in allen Punkten recht. Das KKW muss ihm den Betrag nachzahlen, zuzüglich fünf Prozent Zins.
Das Urteil könnte weitreichende Konsequenzen haben: Der Senior steht stellvertretend für Hunderte Pensionäre, die ebenfalls um ihre Zuschläge kämpfen.
200 Senioren gegen einen Grosskonzern
Über 200 pensionierte Angestellte des Kernkraftwerks und von Alpiq (beziehungsweise dessen Vorgänger Aare-Tessin AG für Elektrizität, Atel) haben sich zusammengetan und einen Anwalt engagiert. Vier Senioren vertreten die Gruppe beim Interview unweit vom Kraftwerk. «Es geht mir nebst dem Geld auch um Wertschätzung», sagt Kurt Hagmann (90), der bis 1998 als Elektrokontrolleur arbeitete. Bei ihm geht es um einen mittleren dreistelligen Betrag monatlich.
Hintergrund: Bisher wurde den Senioren eine «Teuerungszulage» zusätzlich zur Pensionskassenrente ausgezahlt. «Ein Zustupf für Senioren, der bereits seit 1947 bei vielen Stromkonzernen gezahlt wurde», wie der frühere Pikett-Ingenieur René Müller (74), der heute auch zum Gespräch gekommen ist, recherchiert hat.
Vor allem bei den länger Pensionierten wurde die Zulage in der Vergangenheit regelmässig mit der Teuerung erhöht. In solchen Fällen bedeutet die Streichung schnell: Den Rentnern gehen jeden Monat Beträge verloren, die am Lebensstandard kratzen.
Mario Schenkel von Schenkel & Serrago Rechtsanwälte in Luzern ist der Anwalt der Senioren. Er rechnet vor: «Ich vertrat eine Klientin, welche zwischenzeitlich leider verstorben ist. Durch die Streichung der Teuerungszulage ab dem Jahr 2015 wurden ihre monatlichen Zahlungen mehr als halbiert. Die Seniorin wurde gar vom Staat abhängig.» Der betagten Dame habe das sehr zugesetzt: «Ich hatte Mühe, ihr das zu erklären», so Schenkel.
Abstriche trotz Millionen-Überschüssen
Marianne Woodtli (80) ist beim Blick-Treffen mit den Senioren die einzige Frau in der Rentner-Gruppe. Die frühere Leiterin Spezialprojekte bei der Öffentlichkeitsarbeit von Alpiq-Vorgänger Atel sagt: «Mit den Jahren schlichen sich in die Korrespondenz um die Renten immer öfter Worte wie ‹freiwillig› ein. Man spürte, dass Juristen die Texte verfassten.»
Die Konzern-Verantwortlichen versuchten, Senioren mit einer Einmalzahlung von 2000 Franken zum Verzicht auf ihre Zulagen zu bewegen. Ab 2015 zückten der KKW-Betreiber und später Alpiq den Rotstift und strichen die Zahlungen – unzulässigerweise, wie es im aktuellen Urteil heisst. Im selben Jahr wurden Millionen-Überschüsse generiert, hält das Gericht fest. Marianne Woodtli verliert einen mittleren dreistelligen Betrag pro Monat. «Wen würde das nicht treffen?», fragt sie.
Die vier Senioren lassen beim Blick-Treffen Geschichten aus den 70er-Jahren aufleben, als das KKW gebaut wurde. Es gab Proteste, die Kraftwerk-Angestellten wurden angefeindet. «Das schweisst zusammen – wir waren wirklich wie eine Familie», sagt Christian Tännler (79), früher Sachbearbeiter nukleare Hilfsanlagen. Und stolz: «Wir haben dieses Kraftwerk aufgebaut.»
Den Senioren rennt die Zeit davon
Ein Hindernis für den Kampf der Senioren: Die Schweiz kennt das Instrument der Sammelklagen nicht. Anwalt Schenkel sagt: «Es ist endlich Zeit, Sammelklagen in der Schweiz einzuführen.» Denn längst nicht alle Betroffenen wissen, wie sie sich wehren können und werden so um ihre Ansprüche gebracht.
Der Kernkraftwerk-Betreiber und Alpiq können das Urteil durch die Instanzen weiterziehen. Oder auch die anderen Rentner dazu zwingen, mit ihren Forderungen einzeln vor den Richter zu gehen. Das alles kostet Zeit – Zeit, die vielen betroffenen Senioren nicht bleibt.
Beim Kraftwerk und Hauptaktionär Alpiq will man zum Fall keine Stellung nehmen. «Die Kernkraftwerk Gösgen-Däniken AG nimmt das Urteil des Richteramts Olten-Gösgen zur Kenntnis und wird es nun analysieren», schreibt die Alpiq-Pressestelle nur. Heisst für die KKW-Senioren: Auch nächsten Monat landet wieder weniger Geld auf ihrem Konto.