Weil Politiker nicht sparen
Keine neuen Leistungen mehr!

Santésuisse-Direktorin Verena Nold will den Versorgungskatalog der Kassen für fünf Jahre einfrieren – um das Parlament endlich zum Sparen zu bewegen.
Publiziert: 10.09.2023 um 09:01 Uhr
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Aktualisiert: 05.06.2024 um 11:19 Uhr
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Die Kosten steigen: Von Januar bis Juli 2023 haben die Krankenkassen 8 Prozent mehr (690 Millionen) an die Spitäler überwiesen als in der vergleichbaren Periode im letzten Jahr.
Foto: Keystone
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Peter AeschlimannRedaktor

Je näher der Termin rückt, umso weniger glaubt man in Bundesbern an ein Wunder: In drei Wochen wird Gesundheitsminister Alain Berset (51) eine massive Verteuerung der Krankenkassenprämien verkünden. Dem «Tages-Anzeiger» erklärte der abtretende SP-Bundesrat unmissverständlich: «Die Prämien folgen den Kosten. Und die sind im letzten und vor allem aber in diesem Jahr stärker gestiegen als erwartet. Das muss leider nachkorrigiert werden.»

Wie schlimm es wird, lassen Zahlen des Krankenkassenverbandes Santésuisse erahnen. Bis Ende Juli überwiesen die Versicherer bereits 1,6 Milliarden Franken mehr an die Leistungserbringer als in der vergleichbaren Periode des letzten Jahres. Die Spitalkosten stiegen um 8 Prozent (690 Millionen), die Apotheken kassierten 6 Prozent (170 Millionen) mehr. Hochgerechnet aufs ganze Jahr wäre das ein Gesamtplus von rund 2,5 Milliarden Franken. Um die Kosten zu decken und die geschrumpften Reserven zu schonen, müssten die Prämien laut Santésuisse um 8 bis 9 Prozent steigen.

«Kaum wird eine Leistung in den Katalog aufgenommen, wird alles teurer»

«Die Politik hat es in den letzten vier Jahren versäumt, griffige Sparmassnahmen zu beschliessen», sagt Santésuisse-Direktorin Verena Nold zu SonntagsBlick. Deshalb fordert sie nun einen Marschhalt: keine zusätzliche Ausweitung des Leistungskatalogs, wie vom Parlament in diversen Vorstössen gefordert. «Solange der Kostentrend nicht gebrochen wird, gibt es nichts Neues mehr.» Das Moratorium soll für fünf Jahre gelten. Denn: «Kaum wird eine Leistung in den Katalog aufgenommen, öffnen sich die Schleusen – und alles wird noch teurer.» Zuletzt habe man das bei den psychologischen Psychotherapeuten erlebt. Seit sie selbständig abrechnen dürfen, wird das Gesundheitssystem zusätzlich mit rund 320 Millionen Franken pro Jahr belastet. Nold: «Solange die Politik ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat, darf es keinen weiteren Ausbau geben.» 

Im jüngsten SRG-Wahlbarometer nannten die meisten Befragten (39 Prozent) die Krankenkassenprämien als derzeit wichtigste politische Herausforderung – noch vor dem Klimawandel (37 Prozent) und der Zuwanderung (33 Prozent). Die in der kommenden Woche beginnende Herbstsession steht ganz im Zeichen der Gesundheit. Am Dienstag diskutiert das Parlament die Prämien-Entlastungs-Initiative der SP, zwei Tage später steht die Kostenbremse-Initiative der Mitte auf dem Programm. Und am 22. Oktober wird an der Urne abgerechnet. Kein Wunder, überbieten sich die Parteien im Wahlkampf mit Rezepten gegen die Prämienmisere.

Die SP fordert eine Verstaatlichung der Krankenkassen – mit Rückenwind aus der Wählerschaft, die sich in einer Watson-Umfrage mit satten 79 Prozent für eine Einheitskasse ausgesprochen hat. Die FDP weibelt derweil für eine Budget-Krankenkasse, bei der die Versicherten freiwillig auf gewisse Leistungen verzichten und eine Franchise von bis zu 3500 Franken wählen könnten. Und die Zürcher SVP-Regierungsrätin Natalie Rickli (46) zog jüngst sogar eine Abschaffung der obligatorischen Grundversicherung in Betracht.

Santésuisse-Direktorin Nold hat wenig Gehör für diese Vorschläge: «Wir müssen nicht alles auf den Kopf stellen und benötigen auch keine Revolution.» Der gesetzliche Rahmen sei vorhanden, man müsse ihn nur endlich anwenden.

Dass eine Einheitskasse die Prämien verbilligen würde, sei nicht wahr, sagt Nold. «Setzen wir auf diese Scheinlösung, kapitulieren wir vor der oft ungerechtfertigten Kostensteigerung.» Die Prämien stiegen aufgrund der höheren Gesundheitsausgaben. Die Verwaltungskosten dagegen seien in den letzten Jahren stabil bei 5 Prozent geblieben. Heuer liegen sie bei 1,7 Milliarden Franken. Und sind damit etwa gleich hoch, wie die Gesundheitskosten bis Juli gestiegen sind. Selbst wenn sämtliche Angestellten gratis arbeiteten, so Nold, gehe die Rechnung nicht auf.

Das Budget-Modell der FDP zeige gute Ansätze, findet die Santésuisse-Direktorin, sie seien aber nicht neu. Schon heute gebe es die Möglichkeit, alternative Versicherungsmodelle zu wählen. Etwa solche, die Patientinnen und Patienten dazu verpflichten, statt der teureren Originalpräparate Generika zu beziehen: «Jede und jeder kann individuell sein Budget-Modell zusammenstellen.» Die maximal mögliche Franchise auf 3500 Franken zu erhöhen, hält Nold hingegen für keine gute Idee. Die Gesunden würden dann weniger für die Kranken bezahlen, das widerspreche dem Solidaritätsprinzip.

Spitäler müssten besser zusammenarbeiten

Ob Abschaffung des Obligatoriums oder lohnabhängige Prämien – dies sei lediglich Symptombekämpfung. Nold: «Wir müssen die Ursachen in den Griff bekommen. Stellen wir nur die Finanzierung um, lösen wir keine Probleme.»

Ein Haupttreiber der Kosten sind die Medikamentenpreise. 2022 stiegen sie um rund 6 Prozent auf 9 Milliarden Franken. Mittlerweile machen sie knapp einen Viertel der Kosten in der Grundversicherung aus. Hier sieht Nold einen Hebel. Die Schweiz hinke bei den Generika im Vergleich zum Ausland hinterher. Es würden immer noch zu wenige davon verschrieben. Und ihre Preise seien zu hoch. 

Da Spitäler, Hausärzte und Apotheken mit den teuren Medikamenten gut verdienen, gebe es falsche Anreize. Auch in diesem Bereich sei die Politik untätig geblieben, so die Santésuisse-Direktorin. «Der Bundesrat könnte mit einer Anpassung der Vertriebsmarge sofort viel erreichen.»

Auch die Kantone nimmt Nold in die Pflicht. Noch immer gelte vielerorts die Devise: «Jedem Tal sein Spital.» Es sei Unsinn, dass Unispitäler Grundversorgung anbieten und kleine Spitäler komplizierte Behandlungen durchführen. Eine bessere Zusammenarbeit bei den Spitälern und eine sinnvolle Zulassungssteuerung bei den Ärzten würden sich kostendämpfend auswirken, ist Verena Nold überzeugt.

Die Forderung nach einem Moratorium stösst Gesundheitspolitikerin Sarah Wyss (35) auf. «Es ist nicht Aufgabe der Krankenkassen, in den Versorgungskatalog einzugreifen oder zu entschieden, welcher Leistungserbringer welche Behandlung am besten erbringen soll», sagt die SP-Nationalrätin.

Ähnlich sieht es FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt (29). Es sei zwar richtig, dass nicht immer mehr Leistungen in den Grundkatalog aufgenommen werden dürfen. Wenn aber beispielsweise Apotheker statt Ärztinnen Impfungen vornehmen, handle es sich nicht um einen Leistungsausbau, sondern um eine Leistungsumverteilung. «Und da der Apotheker den Piks günstiger anbietet, kann es sogar eine Sparübung sein.» 

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