Als David Beasley (65) vor fünf Jahren Direktor des Welternährungsprogramms der Uno wurde, gab es weltweit 80 Millionen Menschen, die kurz vor dem Verhungern waren. Inzwischen, schätzt er, hat sich die Zahl der akut Hungernden vervierfacht.
Die Gründe für den steilen Anstieg sind vielfältig: Dürren und Überschwemmungen wegen des Klimawandels, Krisen und Konflikte, die Corona-Pandemie. Und, als wäre das nicht schon genug, nun auch noch der Krieg in der Ukraine. «Erst war es eine Krise. Jetzt laufen wir in eine Katastrophe» fasst es Gabriela Bucher (51), Direktorin des Hilfswerks Oxfam International, im Gespräch mit Blick zusammen.
«Apokalyptische Aussichten»
Sie spricht von fast schon «apokalyptischen Aussichten». Weil Russland den Hafen in Odessa blockiert, können derzeit Millionen Tonnen Getreide nicht in die Welt verschifft werden. Die Silos sind voll – bleiben sie es, muss die nächste Ernte verbrannt werden. Sofern Bauern ihre Felder im Krieg überhaupt noch bestellen können. Wegen Düngerknappheit drohen auch in vielen anderen Ländern die kommenden Ernten kleiner auszufallen. Denn Russland, der grösste Düngerproduzent weltweit, ist mit Sanktionen belegt. Und der Preis für das noch verfügbare Getreide steigt und steigt.
Die Ernährungskrise war nebst dem Krieg eines der Hauptthemen am diesjährigen WEF. «Es sind schwache Länder und gefährdete Bevölkerungsgruppen, die am stärksten betroffen sind», sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (63) in ihrer Ansprache. Russland nutze Hunger und Getreide zur Machtausübung.
Höhere Steuern für Reiche?
Der Krieg gefährdet kurzfristig die Ernährungssicherheit in den armen Teilen der Welt. Schliesslich produziert die Ukraine, die Kornkammer Europas, Getreide für 400 Millionen Menschen – das sind fast so viele, wie in der EU leben. Auf lange Sicht ist aber vor allem die Klimaerwärmung das Problem. Die Erträge schrumpfen, während die Bevölkerungszahl gleichzeitig wächst. Laut der Uno braucht es bis 2050 weltweit 50 Prozent mehr Lebensmittel.
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Was tun? Um kurzfristig die Not zu lindern, wäre vor allem eins nötig: Geld. Viel Geld, sagt Oxfam-Direktorin Bucher. «Und das fehlt.» Die Schweiz beispielsweise gab vergangenes Jahr 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Entwicklungshilfe aus. Weniger als der von der Uno geforderte Anteil von 0,7 Prozent. Bucher forderte am WEF unter anderem, dass die Vermögenssteuern für Reiche angehoben werden, um die globalen Ungleichheiten etwas auszugleichen.
Weniger Pestizide, um den Boden zu schonen
Langfristig aber brauche es nicht Spenden, sondern Investitionen, betonte Beasley vom Welternährungsprogramm in einer WEF-Diskussionsrunde. Gerade für die ärmsten Staaten wäre es wichtig, weniger abhängig von Importen zu werden. Ein Schlagwort, das am WEF immer wieder genannt wird, ist die regenerative Landwirtschaft. Es geht dabei darum, schonender mit dem Boden umzugehen – indem beispielsweise weniger oder gar keine Pestizide verwendet werden und nicht gepflügt wird. Die Ernten fallen so zwar kleiner aus, aber die Böden sind dafür nicht irgendwann so kaputt, dass gar nichts mehr wächst.
Die G7-Staaten haben sich ausserdem jüngst darauf verständigt, einen Schutzschirm gegen Klimarisiken ins Leben rufen zu wollen, unter den sich Entwicklungsländer stellen könnten. Aber auch die Konsumentinnen und Konsumenten sind gefragt: Es herrscht Konsens, dass es viel ausmachen würde, würden die Lebensmittelabfälle und der Fleischkonsum reduziert.
Je mehr Hunger, desto mehr Migration
Es ist allerhöchste Zeit zu handeln, das wurde in Davos deutlich. Nicht zuletzt, weil die Hungerkrise wiederum Folgen hat. Der spanische Premier Pedro Sanchez (50) warnte, dass Ernährungsunsicherheit ein «Katalysator für soziale Instabilität und häufig auch für bewaffnete Konflikte» sei. Und Beasley gab zu bedenken, dass jedes Prozent mehr hungernde Menschen zwei Prozent mehr Migration zur Folge habe.