Yuriy Vitrenko (45) sass schon am Verhandlungstisch mit Wladimir Putin (69). 2019 handelte der Chef von Naftogaz, dem ukrainischen Öl- und Gaskonzern, mit dem russischen Präsidenten einen Fünf-Milliarden-Deal für den Transit von russischem Gas nach Europa aus. Naftogaz ist der grösste Staatsbetrieb der Ukraine und der zweitgrösste Gasproduzent in Europa.
Blick traf Vitrenko am WEF zum Interview. Die Reise nach Davos war für ihn so beschwerlich wie kaum für einen anderen Teilnehmer. Erst unter Gefahr von Raketenbeschuss an die ukrainische Grenze, dann mit dem Auto weiter nach Krakau, von dort mit dem Flugzeug in die Schweiz und schliesslich noch der Transfer nach Davos. Dass Vitrenko als Mann im wehrfähigen Alter derzeit überhaupt aus der Ukraine ausreisen darf, liegt daran, dass er Chef eines systemrelevanten Unternehmens ist.
Herr Vitrenko, Sie sind Chef über 52’000 Angestellte. Wie ist es, mitten im Krieg ein Unternehmen zu führen?
Yuriy Vitrenko: Das ist wirklich eine unvorstellbar schwierige Aufgabe. 21 meiner Angestellten wurden bisher während der Arbeit getötet. Doch als wir aus Sicherheitsgründen Werke vorübergehend schliessen wollten, wehrten sich die Mitarbeiter. Sie wollen weiterarbeiten. In einem Heizkraftwerk beispielsweise kamen zwei Angestellte ums Leben – der Rest schloss sich im Werk ein und fuhr mit der Arbeit fort. Sie sagten uns: Wir versorgen unsere eigenen Familien mit dieser Wärme. Wenn wir den Betrieb einstellen, werden alle frieren. Zudem produzieren wir auch Diesel. Dieser Treibstoff wird unter anderem für die Panzer gebraucht, die unsere Kinder schützen.
Wie haben Sie auf den Widerstand der Arbeiter reagiert?
Wir organisierten ihnen schusssichere Waffen und Helme. Und wir mussten beispielsweise in Büros ausserhalb von Kiew zügeln, damit die Angestellten nicht alle paar Stunden wegen eines Raketenalarms in den Bunker rennen müssen. Es ist ein logistischer Alptraum. Aber ich bin meinen Angestellten sehr dankbar für ihr mutiges und heldenhaftes Verhalten.
Yuriy Vitrenko (45) ist seit April CEO des ukrainischen Gas- und Ölkonzerns Naftogaz, dem grössten Energiekonzern des Landes. Der Staatsbetrieb erwirtschaftet einen Achtel des ukrainischen Bruttoinlandprodukts.
Zuvor war Vitrenko mehrere Jahre in verschiedenen Führungspositionen beim Staatsbetrieb tätig. Von 2020 bis 2021 war er kurzzeitig Energieminister der Ukraine. Der studierte Ökonom war vor seiner Karriere im Energiesektor im Finanzbereich tätig.
Yuriy Vitrenko (45) ist seit April CEO des ukrainischen Gas- und Ölkonzerns Naftogaz, dem grössten Energiekonzern des Landes. Der Staatsbetrieb erwirtschaftet einen Achtel des ukrainischen Bruttoinlandprodukts.
Zuvor war Vitrenko mehrere Jahre in verschiedenen Führungspositionen beim Staatsbetrieb tätig. Von 2020 bis 2021 war er kurzzeitig Energieminister der Ukraine. Der studierte Ökonom war vor seiner Karriere im Energiesektor im Finanzbereich tätig.
Nun sind Sie für einige Tage in Davos. Welche Ziele verfolgen Sie am WEF?
Für uns geht es um praktische Dinge: Wir führen mit grossen internationalen Firmen ziemlich erfolgreiche Gespräche über die Gas- und Ölversorgung in der Ukraine. Ausserdem diskutiere ich mit CEOs und europäischen Politikern über Sanktionen in Bezug auf russisches Öl und Gas.
Sie fordern ein komplettes Öl- und Gas-Embargo?
Das ist etwas vereinfacht gesagt. Ja, ich finde, es sollte ein Embargo geben – aber mit Ausnahmen für Länder, die wirklich keine Alternative zu russischem Gas und Öl haben. Mein Vorschlag: Wenn ein Land sagt, es sei davon wirklich abhängig, könnte es russisches Gas oder Öl weiterhin beziehen, aber müsste eine spezielle Abgabe darauf zahlen. So wäre der Import weiterhin möglich, aber es wäre wirtschaftlich nicht vorteilhaft für Russland. Denn im Moment ist russisches Öl zu günstig. Ein anderer Vorschlag: Ein Teil des Geldes, das für russisches Öl oder Gas bezahlt wird, könnte auf ein Sperrkonto einbezahlt werden. Auf dieses hätte Russland erst dann Zugriff, wenn der Krieg vorbei wäre. Das ist smart, weil es Putin motivierte, den Krieg schneller zu beenden.
Warum tut man das dann nicht?
Weil man in Europa der Meinung ist, dass Russland dann die Gaslieferungen ganz stoppen könnte. Doch sie können nicht einfach mit der Gasproduktion aufhören. Denn was passiert dann mit dem Gas? Man kann es nur verbrennen. Sollten die Russen diese riesigen Feuer sehen – also realisieren, dass ihr Land Gas verbrennt, statt es zu verkaufen, würden sie Putin für einen Irren halten. Denn Russland braucht dieses Geld, um Löhne und Renten zu bezahlen oder Strassen zu bauen. Deshalb ist es den Versuch wert, dieses Risiko einzugehen.
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Durch Pipelines in der Ukraine fliesst russisches Gas nach Europa. Hat der Krieg auf diesen Transit einen Einfuss?
Nein. Russland hat bewusst entschieden, keine Transitleitungen ins Visier zu nehmen. Wir transportieren weiterhin russisches Gas und Öl.
Sie helfen Russland damit faktisch, den Krieg gegen Ihr eigenes Land zu finanzieren. Weshalb blockieren Sie die Transitlieferungen nicht?
Das ist ein moralisches Dilemma, das ich auch meinen eigenen Mitarbeitern erklären muss. Warum sprengen wir die russischen Transit-Pipelines nicht in die Luft? Nun, es ist kompliziert. Deutschland und andere Länder bitten uns, den Transit nicht zu stoppen. Der europäische Zusammenhalt ist wichtig, wir müssen gemeinsam darüber entscheiden. Wenn wir den Transit einstellen, werden die Russen damit beginnen, unsere Gas- und Ölinfrastruktur zu bombardieren. Mit dem Risiko, dass dann die ganze Ukraine ohne Gas wäre.
Wie schnell kann Europa russisches Gas und Öl ersetzen?
Das hängt davon ab, wie man es macht. Wenn man nicht bereit ist, etwas zu ändern, dann schafft man es nie. Aber die Schweiz oder Deutschland als reiche Länder könnten recht schnell von russischem Öl und Gas wegkommen. Jedes Grad, das wir weniger heizen, bedeutet zehn Milliarden Kubikmeter weniger russisches Gas. Zudem wäre es eine Möglichkeit, auf mehr Biogas oder andere erneuerbare Energien umzusteigen. Und man sollte endlich beginnen, Terminals für Flüssiggas zu bauen. Denn gerade diese fehlende Logistik sorgt für einen Engpass in Europa.
Manchmal hat man den Eindruck, die Teilnehmer am WEF haben langsam genug vom Thema Ukraine, vier Tage lang nur über den Krieg zu sprechen, das geht an die Nieren.
Ich erlebe das nicht so. Jedes Mal, wenn die Leute hören, dass ich aus der Ukraine bin, bekomme ich die volle Aufmerksamkeit. Das hat auch damit zu tun, dass dieser Krieg nicht nur ein ukrainischer Krieg ist. Er betrifft die ganze Welt. Verrückte Energiepreise, eine Ernährungskrise, Inflation, eine drohende Rezession. Dieser Krieg verändert faktisch die Weltordnung, wir sind eigentlich in einem hybriden dritten Weltkrieg. Deshalb sind alle so interessiert am Thema.