«Der Bundesrat kann sich weder hinter dem Kriegsmaterialgesetz noch dem Neutralitätsrecht verstecken», findet Thomas Cottier (72). In der Frage der Weitergabe von Waffen aus Schweizer Produktion kommt der emeritierte Rechtsprofessor der Universität Bern zu einem klaren Schluss: Die Landesregierung habe schon heute Kompetenz und rechtlichen Spielraum, anderen Staaten die Weitergabe von Kriegsmaterial an die Ukraine zu bewilligen.
Seine Rechtseinschätzung steht in klarem Widerspruch zu jener des Bundesrats. Mehrfach lehnte dieser aus Neutralitätsgründen Anfragen für den Weiterexport von Schutz- und Kriegsmaterial ab. Weil die Ukraine Kriegspartei ist, durfte Dänemark keine Schweizer Piranha-Radschützenpanzer weitergeben, Deutschland keine Munition für Gepard-Panzer und Spanien keine Flugabwehrkanonen.
Das Ausland macht Druck
Dass auf Bern als Rüstungspartner in Kriegszeiten kein Verlass sei, wie der deutsche Vizekanzler Robert Habeck (53) wetterte, könnte Folgen haben: Deutschland droht, keine Schweizer Munition mehr zu kaufen. Andere Nato-Staaten könnten dem Beispiel folgen.
Der Druck aus dem Ausland schreckte sogar SVP-Politiker auf. Weil er um die Schweizer Rüstungsindustrie fürchtet, sucht auch Ständerat Werner Salzmann (60) nach Möglichkeiten, um der Ukraine über Umwege doch noch zu helfen. Mittlerweile liegt rund ein halbes Dutzend Anträge aus fast allen Parteien vor. Alle sind sie umstritten, alle drohen sie im Parlament letztlich zu scheitern.
Mitte-Präsident Gerhard Pfister (60) hingegen hält eine Gesetzesänderung gar nicht für nötig. Er verweist auf Verfassungsartikel 184, der auf die Landesinteressen hinweist. Der Artikel gebe der Schweiz schon heute die Möglichkeit, die Ukraine zu unterstützen. «Die Schweiz und ihre Werte werden jetzt in der Ukraine mitverteidigt. Es liegt darum im Landesinteresse der Schweiz, die Verteidigung der Ukraine zu unterstützen», argumentiert er im Blick. «Darum ist das für mich ein Verteidigungsfall.»
Gesetz lasse Ausnahmen zu
Unterstützung erhält Pfister nun durch Europa- und Wirtschaftsvölkerrechtler Cottier. Er hat ein «Memorandum» zur Weitergabe von schweizerischem Kriegsmaterial verfasst, das Blick vorliegt. Darin kommt er zum Schluss: Tatsächlich wäre die Weitergabe von Schweizer Kriegsmaterial im Eigentum von Nato-Staaten und ihren Verbündeten «in kollektiver Selbstverteidigung» an die Ukraine nach geltendem Recht zulässig.
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Cottier verweist in seinem Memorandum auf das erst kürzlich verschärfte Kriegsmaterialgesetz (KMG). Dieses biete weitere Möglichkeiten. So lege es fest, dass Exporte an andere Staaten «in der Regel» nur bewilligt würden, wenn sich diese dazu verpflichten, das Material nicht an Dritte weiterzugeben. Genau damit argumentiert der Bundesrat. Doch: Der Wortlaut «in der Regel» deute eben darauf hin, dass Ausnahmen möglich sind. So biete das Gesetz die Möglichkeit, nachträglich einem Weiterexport zuzustimmen.
Der Bundesrat könne die ursprüngliche Verfügung anpassen, wenn neue erhebliche Tatsachen vorliegen. Das Gesetz definiere den Begriff der ausserordentlichen Umstände allerdings nicht, es überlasse es dem Bundesrat, im Einzelfall zu entscheiden. Für Cottier ist klar: «Der Umstand eines offenen Angriffskriegs in Europa, mit dem das KMG und seine Revision nicht gerechnet hat, kann (…) als erhebliche Tatsache herangezogen werden.»
Angreifer und Verteidiger müssen nicht gleich behandelt werden
Die Landesregierung vertritt bislang die Auffassung, dass die Schweiz als neutraler Staat gemäss Haager-Abkommen im Fall der Bewilligung der Weiterlieferung von Rüstungsgütern an die Ukraine auch Exporte an Russland genehmigen müsste. Hier aber widerspricht Rechtsprofessor Cottier vehement: Aufgrund von Uno-Recht dürften Angreifer und Verteidiger heute nicht mehr gleich behandelt werden. Das sei bei der Anwendung der Haager-Konvention zwingend zu berücksichtigen. Der Bundesrat müsse jeden Fall einzeln beurteilen und habe auch den dafür nötigen rechtlichen Spielraum.
Kommt hinzu: Nehme der Bundesrat trotz klarer Rechtslage seine Kompetenzen weiterhin nicht wahr, könnten sich Staaten wie Deutschland oder Dänemark auf die völkerrechtlich anerkannten Grundsätze berufen und das Nichtwiederausfuhrverbot übergehen. Denn auch hier gilt für Cottier: «Trifft eine grundlegende Veränderung ein, besteht eine Bindungswirkung nicht mehr. Niemand rechnete damals mit einem offenen Angriffskrieg in Europa.»
Für Cottier steht unter dem Strich fest, dass unsere Regierung schon heute handeln könne – und sollte: «Die Verteidigung der multilateralen Ordnung des Völkerrechts» und der humanitäre Schutz der Zivilbevölkerung «geniessen hier klar einen Vorrang gegenüber verwaltungsrechtlich und völkerrechtlich widerlegbaren neutralitätspolitischen Bedenken des Bundesrats».