Die sieben wichtigsten Fragen und Antworten
Neutralität ade? Was Schweizer Waffen in der Ukraine bedeuten würden

Die Schweiz streitet um Neutralität und Waffenexporte. Blick klärt die wichtigsten Fragen.
Publiziert: 04.02.2023 um 14:47 Uhr
|
Aktualisiert: 05.02.2023 um 15:21 Uhr
1/6
Viele Länder wollten Rüstungsgüter wie Panzer-Munition aus der Schweiz in die Ukraine weitergeben. Die Schweiz lehnt jeweils mit Verweis auf die Neutralität ab.
Foto: keystone-sda.ch

Verstecken gilt nicht mehr. Deutschland, Dänemark oder Spanien hatten in der Schweiz Rüstungsmaterial gekauft. Jetzt wollten sie es der Ukraine weitergeben. Doch der Bundesrat um Wirtschaftsminister Guy Parmelin (63) sagte Nein. Die Schweiz sei neutral und dürfe das nicht.

Im Parlament läuft jetzt die heisse Diskussion: Neutralität? Ukraine-Hilfe? Rüstungsfirmen unterstützen? Doch was bedeutet das überhaupt? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Was bedeutet Neutralität?

Die Neutralität besteht aus dem Neutralitätsrecht und der Neutralitätspolitik.

Das Neutralitätsrecht verbietet es der Schweiz, ein Land im Krieg militärisch zu unterstützen. Die Schweiz darf zwar Kriegsmaterial exportieren, muss aber alle Kriegsparteien gleich behandeln. Dafür ist das Schweizer Staatsgebiet unverletzlich. Ist ein Land im Krieg, darf es keine Truppen durch die Schweiz führen. Geregelt ist das alles im Völkerrecht: Die Schweiz hat einen Vertrag unterschrieben und ist daran gegenüber anderen Ländern gebunden.

In der Neutralitätspolitik hingegen ist die Schweiz freier, sie kann sich an internationale Geschehnisse anpassen. Ein Beispiel dafür sind die Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Sie waren neutralitätsrechtlich weder verlangt noch verboten, schreibt der Bundesrat in einem Bericht.

Was will die Politik?

Wenn eine Schweizer Firma Waffen oder Munition an einen anderen Staat liefern will, muss dieser Staat eine Nichtwiederausfuhr-Erklärung unterschreiben. Er verpflichtet sich darin also, diese nicht an andere Länder weiterzugeben.

Das könnte sich ändern. In den vergangenen Wochen wurden diverse Vorschläge diskutiert, mit verschiedenen Auswirkungen für die Schweizer Neutralität. Die Übersicht und der Völkerrechts-Check von Evelyne Schmid, Professorin für internationales Recht an der Uni Lausanne:

  • Die Sicherheitspolitiker des Nationalrates haben zwei Ideen: Sie wollen, dass die Schweiz die Erklärung aufhebt, wenn die Wiederausfuhr im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine passiert. Die zweite Idee lautet, dass der Bundesrat in Ausnahmefällen erlauben kann, dass andere Länder Kriegsmaterial weitergeben. Voraussetzung: Entweder der Uno-Sicherheitsrat oder zwei Drittel der Uno-Generalversammlung stellen fest, dass das im Völkerrecht verankerte Gewaltverbot verletzt wurde. Das Gewaltverbot wird zum Beispiel verletzt, wenn ein Land versucht, ein anderes einzunehmen. Die UN-Vollversammlung hat die Annektion von ukrainischen Gebieten durch Russland im Oktober mit grosser Mehrheit verurteilt.
    • Völkerrechts-Check: Der Vorschlag, explizit die Ukraine zu bevorzugen, sei neutralitätsrechtlich nicht haltbar. Die Schweiz müsse alle Kriegsparteien gleich behandeln, sagt Expertin Schmid. Beim zweiten Vorschlag sieht es besser aus: Theoretisch könnten beiden Länder davon profitieren. «Man muss sich bewusst sein, dass im Anwendungsfall, also wenn ein Land auch an Russland exportieren will, der Bundesrat Kopfschmerzen haben wird», sagte sie gegenüber SRF.
  • FDP-Präsident Thierry Burkart (47) geht einen anderen Weg. Er will für bestimmte Länder vollständig auf die Nichtwiederausfuhr-Erklärung verzichten. Diese Staaten müssten die gleichen Werte teilen und über ein ähnliches Exportkontrollregime verfügen wie die Schweiz. Dafür gibt es bereits eine Liste mit Ländern, auf der viele europäische Länder stehen, aber auch die USA oder Japan.
    • Völkerrechts-Check: Mit Burkarts Vorschlag bekäme der Bundesrat sehr viel Macht. Er kann dann festlegen, welches Land auf die Liste der Länder kommt, die Waffen und Munition weitergeben dürfen. «Es gibt keine klare Regel, was es braucht, damit ein Land auf diese Liste kommt», sagt Schmid zu Blick. Indirekte Weitergaben wären dann ohne Kontrolle in alle Länder möglich. «So könnte damit auch Kriegsmaterial nach Saudi-Arabien geschickt werden.» Neutralitätsrechtlich sei der Vorschlag durchaus tauglich. Aber: «Die Regel muss gleichmässig auf alle Kriegsparteien angewendet werden.»
  • SVP-Ständerat Werner Salzmann (60) will Burkarts Antrag mit einer Frist versehen. Ein anderes Land dürfte frühestens fünf Jahre nach dem Kauf die Waffen weitergeben. Dazu soll der Bundesrat wieder mehr Macht bekommen. Das Parlament hatte dem Bundesrat diese erst 2021 entzogen.
    • Völkerrechts-Check: Ähnlich wie der Vorschlag von Burkart sei er neutralitätsrechtlich grundsätzlich möglich, sagt Schmid. Es ist jedoch unklar, ob und wie die Regelung rückwirkend umgesetzt werden soll. Die Ukraine könnte möglicherweise davon gar nicht profitieren.
  • Nationalrätin Maja Riniker (44, FDP) will Leopard-Panzer, die die Schweiz nicht mehr braucht, an europäische Partnerländer weitergeben. Länder wie Polen wollen ihre Panzer an die Ukraine weitergeben. Geht es nach Riniker, kommt der Nachschub für Polen aus der Schweiz, sagt sie zur «NZZ». Die Bedingung ist aber, dass keine Schweizer Panzer in die Ukraine weitergeben werden.
    • Völkerrechts-Check: Neutralitätsrechtlich sei es möglich, Panzer an Länder wie Polen oder Finnland weiterzugeben. «Man muss dafür keine Wiederausfuhr-Klausel aufheben und das Gesetz nicht ändern», sagt Schmid. Fraglich sei politisch bei allen Vorstössen, wie glaubhaft die Schweizer Haltung für die anderen Länder sei.

Was wären die Folgen eines Bruchs mit dem Neutralitätsrecht?

Wenn die Schweiz direkt oder indirekt die Ukraine bei Waffenlieferungen bevorteilt, wäre sie nicht mehr neutral. Es gibt aber keine «Weltpolizei». Die Konsequenzen sind schwierig abzuschätzen. Die Schweiz hätte allerdings keinen Schutz mehr durch den völkerrechtlichen Neutralitätsstatus, sagt die Expertin. Das bedeutet: Im Kriegsfall wäre das Territorium nicht mehr explizit geschützt.

Warum die vielen verschiedenen Ideen?

Während die einen zumindest indirekt der Ukraine helfen möchten, geht es anderen mehr um die Zukunft der Schweizer Rüstungsindustrie. Die braucht es für die Bewaffnung der Schweizer Armee: Man hat in der Pandemie ja gesehen, was es bedeutet, wenn man auf Importe angewiesen ist. Problem: Wenn andere Länder nicht mehr bei uns Waffen kaufen, weil sie fürchten, diese im Notfall nicht weitergeben zu können, könnten die Schweizer Rüstungsfirmen ins Ausland abwandern. Unter anderem Deutschland ärgerte sich über die strikten Regeln und droht, keine neue Munition mehr zu kaufen. Andere Staaten könnten folgen. Auch darum will man die Wiederausfuhr-Regeln lockern.

Was sagt das Volk?

Gemäss einer Umfrage der «NZZ am Sonntag» will eine knappe Mehrheit von 55 Prozent, dass andere Länder Schweizer Waffen in die Ukraine schicken dürfen. 40 Prozent sind dagegen. Am deutlichsten ist die Ablehnung in den Reihen der SVP.

Auch innerhalb der Parteien brodelt es. FDP-Chef Burkhart distanziert sich vom Vorschlag von Parteikollegin Riniker. Und SVP-Doyen Christoph Blocher (82) hält nichts von Salzmanns Vorschlag.

Wie geht es jetzt weiter?

Am Freitag haben die Sicherheitspolitiker des Ständerats über der Vorlage gebrütet. Die Sicherheitskommission hat eine eigene Initiative gestartet, die sich an den Vorschlägen von Burkart und Salzmann anlehnt. Sie will das Gesetz so ändern, dass die Geltungsdauer von Nichtwiederausfuhr-Erklärungen für bestimmte Länder, die Schweizer Kriegsmaterial kaufen, nur während fünf Jahren gilt. Diese Staaten müssten die gleichen Werte teilen und über ein ähnliches Exportkontrollregime verfügen wie die Schweiz. Gleichzeitig müssen sie sich verpflichten, die Waffen nicht an Länder weiterzugeben, in denen Menschenrechte schwerwiegend verletzt werden oder in denen die Gefahr besteht, dass das betreffende Kriegsmaterial gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wird.

Auch Länder, die in interne oder internationale bewaffnete Konflikte verwickelt sind, sollen ausgeschlossen sein. Ausnahme: Sie machen – wie jetzt die Ukraine – von ihrem völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrecht Gebrauch.

Die Vorlagen kommen voraussichtlich im März ins Parlament, wo dann National- und Ständerat definitiv entscheiden.

Die SVP hat eine Neutralitäts-Initiative angekündigt. Was will die genau?

Die SVP kritisiert unter anderem die Sanktionen der Schweiz gegenüber Russland und hat deshalb die Neutralitäts-Initiative lanciert. Sie will explizit in die Verfassung schreiben, dass die Schweiz keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis beitreten oder Wirtschaftssanktionen ergreifen darf. Aus dem Verbot ausgeklammert bleiben Verpflichtungen gegenüber der Uno.

Die Initiative würde hauptsächlich die Neutralitätspolitik betreffen, sagt Schmid. «Viele Themen sind durch das Neutralitätsrecht nicht geregelt, zum Beispiel auch der Handel.» (bro)

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?