National- und Ständeräte überbieten sich derzeit mit Vorschlägen, wie die Schweiz der Ukraine zur Seite stehen könnte. Am Freitag hat die Sicherheitskommission des Ständerats entschieden, die Waffenexport-Regeln zu lockern. Das Parlament reagiert auf den Druck aus dem Ausland, das uns kritisiert, weil der Bund die Weitergabe von Kriegsmaterial aus Schweizer Produktion an die Ukraine bislang untersagte. Deutschland droht, kein Rüstungsmaterial mehr in der Schweiz zu kaufen, wenn dieses notfalls nicht an ein Drittland weitergereicht werden kann. Und hiesige Rüstungsbetriebe befürchten, unter geltendem Recht keine Waffen mehr exportieren zu können. Eine klare Haltung hat hier Mitte-Präsident Gerhard Pfister (60). Der Zuger empfing Blick im Bundeshaus.
Blick: Herr Pfister, die Sicherheitskommission des Ständerats will die Geltung von Nichtwiederausfuhr-Erklärungen auf fünf Jahre begrenzen. Für Länder in bewaffneten Konflikten soll das aber nicht gelten.
Gerhard Pfister: Die Einzelheiten werden geklärt werden müssen. Klar ist: Die Idee des Ringtauschs ist nicht neu, also dass die Schweiz Deutschland Waffen lieferte und es diese dann an die Ukraine weitergeben würde. Ich war schon im April der Meinung, dass man der Ukraine so helfen muss. Nur: Was die Kommission des Ständerats im Gegensatz zu derjenigen des Nationalrats will, bedarf meines Erachtens einer Gesetzesänderung.
Sie wollen keine Änderung?
Es braucht nach wie vor keine Gesetzesänderung. Aufgrund des Verfassungsartikels 184, der auf die Landesinteressen hinweist, können wir die Ukraine ohne Gesetzesänderung unterstützen. Mir scheint, die Mehrheit der Kommission des Ständerats will etwas anderes.
Was denn?
Der Schweizer Rüstungsindustrie helfen. Dafür braucht es eine Gesetzesänderung. Unser Vorschlag hingegen, die Lex Ukraine, will das Gesetz nicht umgehen und auch nicht ändern. Ich will der Ukraine helfen. Das geht mit einer befristeten Verordnung, wie wir sie vorschlagen. Gemäss Rechtsprofessoren ist das mit der Neutralität vereinbar.
Aber davon wollen SVP und FDP nichts wissen.
Der Vorstoss von FDP-Präsident Thierry Burkart, der das Nichtwiederausfuhrverbot für einzelne Staaten aufheben möchte, sowie die Befristung auf fünf Jahre, bezwecken Änderungen für die Zukunft, für die Rüstungsindustrie. Das nützt der Ukraine nichts! Dabei müssen wir dort ansetzen. Man kann später noch prüfen, ob die Rüstungsindustrie Hilfe nötig hat. Ich bezweifle das. Kommt dazu: Die heutige Regelverschärfung für Waffenexporte fusst auf einer Initiative, die in Rekordzeit zustande kam.
Die Kommission des Ständerats hat Ihre Lex Ukraine bachab geschickt, weil sie eine Kriegspartei bevorzugt und mit unserer Neutralität kaum vereinbar ist. Wie reagieren Sie?
Die Schweiz kennt die bewaffnete Neutralität. Sie muss sich angemessen verteidigen können. Die Schweiz und ihre Werte werden jetzt in der Ukraine mitverteidigt. Es liegt darum im Landesinteresse der Schweiz, die Verteidigung der Ukraine zu unterstützen. Darum ist das für mich ein Verteidigungsfall.
Dennoch, Sie scheinen unsere Neutralität neu zu definieren. Ist die Neutralität aus Ihrer Sicht noch zeitgemäss?
Absolut! Denn sie nimmt den Bundesrat in die Verantwortung. Er muss die Landesinteressen wahren, gerade in der Aussenpolitik. Die Schweiz hat auch im Zweiten Weltkrieg ihre Neutralitätspolitik auf die damalige Bedrohungslage ausgerichtet. Derzeit lässt sich kaum abschätzen, wohin die aggressive Politik Russlands noch führt. Georgien war der erste Schritt, die Krim der zweite, die Ukraine soll der dritte sein. Wir sollten jene Länder unterstützen, die Europa verteidigen. Wer der Ukraine jetzt nicht hilft, hilft Russland. Das ist nicht neutral.
Ist die Schweiz im Krieg?
In Europa herrscht Krieg. Die Schweiz ist mitten in Europa. Wir nehmen Flüchtlinge auf und haben die Russland-Sanktionen übernommen. So oder so: Wir sind vom Krieg betroffen. Und der Bundesrat muss alles tun, um die Interessen des Landes zu wahren.
Gerhard Pfister (60) ist in Oberägeri ZG aufgewachsen. Nach der Primarschule besuchte er die Klosterschule Disentis GR und studierte in Freiburg Literatur und Philosophie. Nach dem Tod des Vaters führte er dessen Schulinternat bis zur Schliessung 2008 weiter. Von 1998 bis 2003 sass Pfister im Zuger Kantonsrat. 2003 wurde er in den Nationalrat gewählt. 2016 übernahm er das Präsidium der CVP Schweiz, mittlerweile umbenannt in Die Mitte.
Gerhard Pfister (60) ist in Oberägeri ZG aufgewachsen. Nach der Primarschule besuchte er die Klosterschule Disentis GR und studierte in Freiburg Literatur und Philosophie. Nach dem Tod des Vaters führte er dessen Schulinternat bis zur Schliessung 2008 weiter. Von 1998 bis 2003 sass Pfister im Zuger Kantonsrat. 2003 wurde er in den Nationalrat gewählt. 2016 übernahm er das Präsidium der CVP Schweiz, mittlerweile umbenannt in Die Mitte.
Auch für Christoph Blocher ist die Schweiz Kriegspartei, seit wir die Sanktionen übernommen haben. Um das künftig zu verhindern, hat er die Neutralitäts-Initiative lanciert.
Die Neutralitätsdebatte muss geführt werden, und sie wird geführt. Ich teile zwar nicht Christoph Blochers Auffassung von Neutralität, aber ich begrüsse die Diskussion. Der Bundesrat muss seine Neutralitätspolitik immer wieder auf die jeweiligen Bedrohungslagen ausrichten können. Herr Blochers Auffassung ist hier zu starr.
Gerade Sie aber gehören seit Kriegsbeginn zu den schärfsten Kritikern des Bundesrats.
Der Bundesrat scheut sich davor, klare Entscheide zu treffen. Er versteckt sich hinter Gesetzestexten und bietet keine politische Orientierung. Erst wenn der Druck aus dem Ausland zunimmt, ist er bereit, sich zu bewegen. Es stört mich, dass nur unter Druck etwas passiert, nachdem man zuerst monatelang tatenlos abgewartet hat. Wir müssen doch selber entscheiden, was wir wollen!
Sie haben im Frühling die Kriegsgewinnsteuer in die Diskussion eingebracht. Es entstand der Eindruck, Sie würden diese Steuer unterstützen.
Dieser Eindruck ist falsch. Grossbritannien, aber auch andere EU-Länder, haben eine solche Besteuerung angekündigt und teilweise auch eingeführt. Ich habe die Frage gestellt, was die Haltung des Bundesrats wäre, wenn die internationale Gemeinschaft so etwas beschliessen würde.
Sie wollen also keine Kriegsgewinnsteuer?
Mein Anliegen war, dass man sich rechtzeitig damit befasst. Wenn der internationale Druck auf die Einführung einer Besteuerung von Kriegsgewinnen kommt, ist es zu spät.
Eine Kriegsgewinnsteuer wäre doch eine gute Lösung angesichts der roten Zahlen des Bunds.
Es gibt vernünftigere Ideen, um den Staatshaushalt zu sanieren – falls er denn so bedroht sein sollte, wie der Bundesrat uns jeweils glauben machen will, wenn es ums Budget geht. Meistens sehen die Jahresabschlüsse ja recht erfreulich aus.
Darum kann man Millionen verschenken. Man schafft die Industriezölle ab und will Schifffahrtsunternehmen nicht mehr nach Gewinn, sondern nach Transportkapazitäten besteuern. Ist das der richtige Weg, wenn den Bürgern die Kosten über den Kopf wachsen?
Warum hatte die Schweiz die 35 Milliarden, die wir während Corona ausgeben konnten? Dank der Schuldenbremse. Wir sollten von unseren finanzpolitischen Grundsätzen nicht abweichen. Dazu gehört auch, dass wir die Wirtschaft massvoll besteuern. Aber ja, die Kaufkraft der Leute ist unter Druck. Dank der Mitte-Partei gibt es den Teuerungsausgleich bei der AHV …
… schliesslich sind es ja die Rentner, die vor allem an die Urne gehen.
Ich stelle erfreut fest, dass uns immer mehr junge Menschen wählen. Wir vergessen auch diese nicht. Aber bei der AHV können sie allen Senioren helfen. Gezielter wären natürlich Prämienverbilligungen bei den Krankenkassen. Und wir sind offen für weitere wirkungsvolle Vorschläge, wie man auf die steigenden Lebenshaltungskosten reagieren kann. Und noch …
… ja?
Ein Satz zur Tonnage-Tax. Bei der Besteuerung der Transportkapazitäten müssen wir wirklich genau hinschauen. Der Ständerat sollte kritisch beäugen, ob diese Sonderbesteuerung für Unternehmen im heutigen Umfeld nicht beispielsweise mit Massnahmen für die Bevölkerung verknüpft werden sollte.
Das könnte dich auch interessieren
Wenn Sie den Ständerat ansprechen, meinen Sie dann Ihre Mitte-Leute, die ja selten auf Sie hören, oder den gesamten Ständerat?
Es ist ein Klischee, dass unsere Ständeräte selten auf mich hören. Aber sie müssen auch nicht auf mich hören, sondern wir versuchen, uns gegenseitig zu überzeugen. Sie sprechen die Abstimmung über die Prämienverbilligungen an. Eine Mehrheit unserer Ständeräte hat sich an den Fraktionsbeschluss gehalten und die Verbilligung mitgetragen. Aber es darf nicht sein, dass eine Minderheit – egal, ob im National- oder im Ständerat – einen Fraktionsbeschluss ins Gegenteil verkehrt.
Laut Umfragen dürfte die Mitte bei den Wahlen im Herbst den Wähleranteil von rund 14 Prozent halten. Sind Sie damit zufrieden?
Die heutigen Herausforderungen für unser Land sind viel grösser als vor vier Jahren. Die Polarisierung hat zugenommen. Jetzt findet offenbar eine wachsende Zahl an Bürgerinnen und Bürgern, es brauche eine starke Mitte, dank der Lösungen möglich werden. Besonders wichtig werden aber die sechs Wochen vor dem Wahltermin sein. Da entscheidet es sich, ob unsere Sympathisanten tatsächlich zur Urne gehen.
Bis dahin warten Sie zu?
Natürlich nicht. Ich bin fast jeden Abend bei einer Ortspartei. Ich stelle dabei fest, dass ein Ruck durch die Mitte gegangen ist. Wir haben einen so starken Zulauf von jungen Menschen, wie ich diesen noch nie erlebt habe, seit ich in meiner Partei anfing. Der Zulauf verändert uns. Die Jungen machen die Mitte zu einer Bewegung. Auch dass die jungen Dittli-Schwestern gewählt wurden, hat natürlich etwas ausgelöst. Ihre Wahl zeigt: Man kann bei uns rasch Verantwortung übernehmen.
Was ist Ihr persönliches Ziel: Wollen Sie im Herbst 2023 wieder auf 14 oder gar 15 Prozent kommen – oder lieber ein Jahr später Bundesrat werden?
Bei den Wahlen ist es unser klares Ziel, den Wähleranteil zu steigern. Wie hoch dieser wird, bestimmen aber die Wählerinnen und Wähler.
Und wenn Sie Wähleranteile verlieren? Wackelt dann Ihr Stuhl?
Ich bin angetreten, um dieser Partei eine Zukunft zu geben. Wir haben die Partei verändert und haben gemeinsam schon viel erreicht. Die Arbeit ist mit dem Wahltag vom 22. Oktober aber noch nicht getan. 2024 findet eine Delegiertenversammlung der Mitte statt, und es wird an den Delegierten sein zu entscheiden, ob sie mir noch einmal vier Jahre die Parteileitung anvertrauen wollen.
Sie haben die Teilfrage nach dem Bundesrat nicht beantwortet.
Ich pflege diese Frage dann zu beantworten, wenn sie sich jeweils stellt, wie beispielsweise im Herbst 2018. Heute stellt sich die Frage nicht.