Völkerrechtsexperte nimmt Ständeräte in Schutz
«Die Richter haben sich verrannt»

Die Rechtskommission des Ständerats kritisiert das Klima-Urteil gegen die Schweiz scharf und will es nicht umsetzen. Völkerrechtsexperte Oliver Diggelmann ordnet ein.
Publiziert: 25.05.2024 um 19:58 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2024 um 20:02 Uhr
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Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht, hat selbst für kurze Zeit am EGMR gearbeitet.
Foto: Samuel Walder
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Andri Gigerl
Beobachter

Ständerat Daniel Jositsch (SP) trat am Dienstag mit einer explosiven Botschaft vor die Medien. Die Rechtskommission des Ständerats (RK-S) hat sich mit dem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) gegen die Schweiz im Fall der Klimaseniorinnen befasst und entschieden: Man sehe «keinen Anlass, dem Urteil des Gerichtshofs […] weitere Folge zu geben». Das Urteil sei richterlicher Aktivismus, «überstrapaziere» die Rechtsfortentwicklung und schade dem EGMR als Institution. Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann von der Universität Zürich war unter den von der Kommission angehörten Expertinnen und Experten. Im Interview mit dem Beobachter sieht er das Urteil kritisch – hält den Gerichtshof aber für unverzichtbar für Europa und die Schweiz.

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Beobachter: Die Rechtskommission des Ständerats sagt, das Klima-Urteil gegen die Schweiz sei gerichtlicher Aktivismus. Hat sie recht?
Oliver Diggelmann: So würde ich das nicht formulieren. Aber: Das Urteil hat für mich den Geruch, auf ein erwünschtes Ergebnis hin konstruiert worden zu sein. Mit dem Ziel, am Ende sagen zu können: Der Gerichtshof hat etwas getan, zumindest symbolisch.

Wo in diesem Urteil sehen Sie denn eine «Konstruiertheit»?
Der EGMR argumentiert ja mit einer Verletzung des Rechts auf Privatleben. Mangelnder Schutz vor Klimawandel als Verletzung des Rechts auf Privatleben? Sagen Sie das einmal laut, dann merken Sie, wie merkwürdig es klingt. Da hat die Mehrheit der Richterinnen und Richter ein Menschenrechtsverständnis, das aus meiner Sicht das Recht auf Privatleben überdehnt.

Aber die Klimakrise ist ein grosses Problem, das uns alle betrifft.
Natürlich ist das so. Aber es gibt nicht für jedes grosse politische Problem auch eine Menschenrechtsgarantie, die dem Staat die Richtung vorschreibt. Richter als generelle letzte Problemlöser – das ist nicht die Idee der Menschenrechte. Wenn alles ein Menschenrecht ist, ist nichts mehr ein Menschenrecht.

Wie meinen Sie das?
Menschenrechte sind eine Antwort darauf, dass jemand Opfer eines ihn spezifisch treffenden staatlichen Eingriffs ist – zum Beispiel Gefängnis ohne richterliche Überprüfung. Sie sind nicht gemacht für politische Probleme wie den Klimawandel, die alle Menschen gleich betreffen. Damit das Gericht die Klage zulassen konnte, war viel juristische Akrobatik nötig. Jetzt hat es eine eigentlich politische Frage zur menschenrechtlichen erklärt und so dem demokratischen Prozess entzogen.

Im Urteil für die Klimaseniorinnen wurden aber die Massnahmen, die die Schweiz ergreifen muss, bewusst offengelassen. Da bleibt viel demokratischer Spielraum.
Das ist zwar richtig, aber auch etwas ein Trick: Denn wenn das Gericht ein Ziel vorgibt und offenlässt, wie der Staat dorthin kommt, hat es die entscheidende Frage ja trotzdem an sich gezogen. Das kommt aber nicht wirklich überraschend für mich. Es gibt seit den 1990er-Jahren eine Tendenz, politische Fragen, wenn immer möglich, als Menschenrechtsprobleme zu reformulieren.

Aber die Menschenrechtskonvention ist von 1950 – da wusste man noch kaum vom Klimawandel. Denken Sie nicht, die Konvention muss sich weiterentwickeln, damit sie ihre Aufgabe auch heute erfüllen kann?
Selbstverständlich muss die Auslegung gesellschaftlichen Wandel berücksichtigen. Die Frage ist aber, wie das geschieht. Es gab viel Weiterentwicklung, die mit gesundem Menschenverstand durch die Menschenrechte abgedeckt ist, zum Beispiel Datenschutz, Emanzipation sexueller Minderheiten oder Schutz vor aggressiver Presse. Aber ungenügender Klimaschutz als Verletzung des Rechts auf Privatleben? Das wirkt willkürlich und zehrt am Vertrauen in den EGMR.

Die Ständeratskommission sieht das gleich und will das Urteil deshalb schlicht nicht umsetzen. Wenn sogar Staaten wie die Schweiz Urteile nur noch umsetzen, wenn es ihnen gerade passt, was nützt dann die Konvention noch?
Mit Verlaub: Da übertreiben Sie. Die Schweiz ist ausgesprochen völkerrechtstreu und setzt Urteile gut um. Das hier ist aber ein Sonderfall. Ich finde die Kritik des Ständerats durchaus legitim. Die Nichtumsetzung eines Urteils ist aber natürlich kein Weg.

Wie würden Sie denn mit dem Urteil umgehen?
Man muss deutlich benennen, dass sich die Richter verrannt haben. Und man kann lobbyieren, dass das Gericht seine Rolle dem Mandat entsprechend ausführt.

Was würde das heissen, die Rolle dem Mandat entsprechend auszuführen?
Menschenrechte müssen im ganzen demokratischen Spektrum zustimmungsfähig sein. Man sollte sich an der Idee einer resistenten Brandmauer orientieren, auf die man sich gesellschaftlich breit einigen kann – dadurch entfalten Menschenrechte ihre moralische Wucht. Sie stellen den Rahmen dar, in dem wir für unsere politischen Ideen kämpfen und den Gegner mit Argumenten zu stoppen versuchen. 

Auch wenn Sie den Auftrag anders interpretieren – den Gerichtshof an sich verteidigen Sie?
Auf jeden Fall. So problematisch ich dieses Urteil finde, problematische Urteile kommen bei jedem bedeutenden Gericht vor. Klar ist: Wir brauchen den EGMR zum Schutz des Einzelnen. Dieses Gericht ist zu wichtig, als dass wir darauf verzichten könnten. Für die Schweiz, für unsere Demokratie, für unseren Rechtsstaat – denn auch wir haben rechtsstaatlich blinde Flecke.

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