Erster Stimmungtest nach den nationalen Wahlen
Aargauer SVP fürchtet sich vor Glarner-Effekt

Dreht sich die Abwärtsspirale der SVP weiter? Kurz vor den Wahlen im Aargau kritisiert eine SVPlerin ihre eigene Partei – und erschwert damit einen Stimmenzuwachs. Die anderen Parteien wirds freuen.
Publiziert: 12.10.2020 um 08:30 Uhr
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Aktualisiert: 18.10.2020 um 10:47 Uhr
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SVP-Nationalrat Andreas Glarner eckt an – auch in der eigenen Partei.
Foto: Keystone
Noa Dibbasey

«Gewissen Exponenten fehlt der Anstand.» Mit diesen Worten zieht Barbara Borer-Mathys (37) in einem Diskussionsbeitrag über die SVP her. Dabei präsidiert die Rechtsanwältin selbst die SVP des Bezirks Kulm. Derart kurz vor den Aargauer Grossratswahlen hätte die Partei keinen Rückenschuss aus den eigenen Reihen gebraucht. Die SVP befindet sich ohnehin schon in einer Abwärtsspirale.

Ihr grösster Feind sind nach wie vor nicht die Ausländer, sondern die grüne Welle, die seit den nationalen Wahlen 2019 nicht abebbt. Ausserdem hat der letzte Abstimmungssonntag gezeigt, dass momentan die urbane, links-grüne Schweiz den Ton angibt. Und auch bei den Schaffhauser Kantonsratswahlen hat das Klima-Thema den Ausschlag gegeben – und den Grünen drei Sitzgewinne beschert.

«Der Ton macht die Musik»

Unter solch schwierigen Bedingungen ist ein parteiinterner Knatsch das letzte, was eine Partei kurz vor den Wahlen am 18. Oktober braucht. «Vor den Wahlen möchte ich keine Diskussion zu diesem Thema starten», sagt denn auch der ehemalige Präsident der SVP Aargau und Nationalrat Thomas Burgherr (58). Auch Barbara Borer-Mathys möchte sich nicht mehr äussern. Ihr Standpunkt sei klar: «Der Ton macht die Musik.»

Klar ist auch, auf welchen «Exponenten» sie mit ihrem Statement zielte: auf den Präsidenten der SVP Aargau, Nationalrat Andreas Glarner (58). Glarners jüngste Angriffe auf seine grüne Nationalratskollegin Sibel Arslan (40), die er als «Arschlan» betitelte und der er implizit absprach, eine richtige Schweizerin zu sein, kommen auch in weiten Teilen der SVP-Anhängerschaft nicht gut an. Glarner will sich zur Kritik an seiner Person nicht äussern.

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«Die SVP ist ein Sanierungsfall»

Bezüglich der Wahlen gibt Glarner vor, sich aber keine Sorgen zu machen: «Wir gehen davon aus, dass wir alle unsere Sitze im Grossen Rat halten können.» Momentan besetzt die SVP dort 45 von 140 Sitzen. Politologe Claude Longchamp (63) hat da eine andere Sicht: «Christophs Blochers Diagnose nach den eidgenössischen Wahlen war richtig: die SVP ist ein Sanierungsfall, und zwar vor allem auf kantonaler Ebene.» Nur sei auch Blocher derzeit nicht der Sanierer.

Dass der SVP-Doyen erst kürzlich seine Bundesratsrente zurückforderte, brachte das Fass zum überlaufen, so Longchamp. Blocher, Glarner, parteiintere Unstimmigkeiten: «Die SVP dürfte eine Weile lang mit sich beschäftigt sein, mit der Frage des Programms, der Ausrichtung, der Köpfe und der Kommunikation.» Bis man sich wieder gefunden habe, lähme das in der Regel jede Partei, meint der Politologe. «Vor allem die grünen Parteien können davon profitieren.»

SVPler wähnen den Aargau noch immer stramm bürgerlich

«Nicht mehr das Klima, sondern Corona und dessen Bewältigung steht jetzt im Vordergrund», glaubt hingegen Thomas Burgherr. Und Glarner ist überzeugt: «Im bürgerlichen Aargau wird das Ergebnis für uns nicht so schlimm ausfallen.»

Doch auch der Aargau wandelt sich. Zuzüger aus der Stadt rütteln an der SVP-Hochburg. Glarner blendet aus, dass die SVP bei den Nationalratswahlen 2019 um 6,5 Prozentpunkte einbrach – zu Gunsten der Grünen. So kann er sich irren, wenn er sagt, die Aktion auf dem Bundesplatz während der letzten Session schade den Grünen.

Und ob der Wähler die Ansicht des SVP-Nationalrats teilt, dass die Grünen dieses Jahr sehr schwache Listen haben, muss sich zeigen. Ganz anders sieht das die grüne Nationalrätin Irène Kälin (33): «Mit unserer jungen Liste können wir den überalterten Grossen Rat im Aargau etwas aufmischen.»

GLP ist neue Trend-Partei

Doch die Grünen sind nicht die einzigen Klimaschützer im Aargauer Wahlkampf. «Die Abstimmungergebnisse vom 27. September haben gezeigt, dass die GLP die neue Trendpartei ist», erklärt Politologe Longchamp. Die Grünliberalen gehörten bei alllen fünf Abstimmungen zu den Gewinnern. Die Partei punkte zwischen den Blöcken und habe den Drive aus den eidgenössischen Wahlen mitnehmen können, so der Experte. «Das hat sich in den meisten kantonalen Wahlen positiv auf die Sitze ausgewirkt.»

Die Grüne Kälin bleibt trotzdem optimistisch: «Ich denke, wir decken nicht unbedingt dasselbe Klientel wie die GLP ab.» Sie würde sich über einen Zuwachs der Grünliberalen sogar freuen. «Eine weitere grüne Partei ist höchstens eine positive Konkurenz. Grüne Themen sind immer wichtig.»

«GLP-Gründungen schiessen wie Pilze aus dem Boden»

Grund zu Neid haben andere Parteien – zum Beispiel die CVP, deren Abstimmungsparolen nicht so zahlreich angenommen wurden. Es war die links-urbane Strömung, die ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Werden die Ergebnisse im ländlichen Aargau anders aussehen?

«Nein», meint Beat Flach (55), der einzige Aargauer GLP-Vertreter in Bundesbern. «Progressive Politik wird auch auf dem Land geschätzt», betont er – und schiebt gleich noch ein Beispiel hinterher: «In den letzten Monaten schiessen GLP-Sektionsgründungen im Aargau wie Pilze aus dem Boden.» – Und das vor allem in ländlichen Gebieten. Das stimme ihn zuversichtlich. «Ich habe schon Wetten am Laufen, dass wir auf 13 Sitze im Grossen Rat aufstocken können.» Das wären fast doppelt so viele wie in der letzten Legislatur.

Es bleibt spannend

Der CVP kommt entgegen, dass die BDP zu den Aargauer Grossratswahlen nicht mehr antritt, sondern sich zur Gründung einer gemeinsamen Mittepartei mit der CVP aufmacht. «Mit den Listen CVP Die Mitte und verschiedenen ehemaligen Kandidierenden der BDP binden wir die BDP-Basis ein, signalisieren aber auch Öffnung viele weitere Mittewähler. Die BDP-Wählerprozente sind also wertvoll. », sagt Marianne Binder. So – und mit einem teuren Wahlkampf – möchte die CVP zulegen.

Der Wahlsonntag wird also spannend – alle Parteien geben sich bis zuversichtlich – trotz der Querelen in der SVP. Ob der Rüebli-Kanton bürgerlich bleibt oder die SVP dorthin schickt, wo der Pfeffer wächst, zeigt sich am 18. Oktober.

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