Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert weiter an. Bis am Donnerstag waren in der Schweiz über 43'000 ukrainische Flüchtlinge registriert, rund 36'000 haben den Schutzstatus S bisher erhalten. Viele Flüchtlinge hat es in die Städte gezogen, wodurch die Lasten ungleich auf die Kantone verteilt wurden.
Seit Anfang dieser Woche werden die Geflüchteten nun gezielter auf die Kantone verteilt. Jeder Kanton soll proportional zu seiner Bevölkerung einen Anteil an Personen mit S-Verfahren erhalten. Neuankömmlinge werden also prioritär jenen Kantonen zugewiesen, die ihre Quote noch nicht erfüllen. So können bestehende Ungleichgewichte schrittweise ausgeglichen werden.
Allerdings dürfte dieser Prozess noch gut zwei Monate dauern, erklärte David Keller, Leiter des Krisenstabs Asyl im Staatssekretariat für Migration (SEM), an einer Medienkonferenz der Ukraine-Experten des Bundes am Donnerstag.
Bern und Tessin im Plus, Zürich im Soll
Gemäss Verteilschlüssel haben etwa die Kantone Bern und Tessin derzeit jeweils rund 800 Personen mehr aufgenommen als vorgegeben. Das zeigt eine Liste des SEM, welche künftig wöchentlich veröffentlicht werden soll. Der Kanton Zürich, der am meisten Flüchtlinge aufnehmen muss, liegt mit rund 7500 Personen im Soll. Die Westschweizer Kantone hingegen hinken den Vorgaben hinterher. Aber auch grosse Kantone wie Aargau, Luzern oder St. Gallen liegen im Minus.
Für die Ungleichgewichte gebe es verschiedene Gründe, betonte Keller. Ein Grund könnten viele vorhandene private Unterkünfte sein, oder aber ein Kanton sei für einen anderen kurzfristig eingesprungen. Ein Spezialfall sei Appenzell-Ausserrhoden, das prozentual gesehen am höchsten über dem Soll liege, sagte Keller. Der kleine Kanton verfüge über Infrastruktur, um ganze Heime aufzunehmen, zum Beispiel Kindergruppen. Auch das könne zu Verwerfungen führen.
«Es geht nicht darum, wer ist der Bessere oder Schlechtere. Wir haben eine grosse Aufgabe vor uns», mahnte Keller. Anpacken sei wichtiger, als mit dem Finger auf jemanden zu zeigen.
Verteilung mit gewisser Kulanz
Der Verteilschlüssel werde vorläufig mit einer gewissen Kulanz angewendet, sagte Keller. Ausgenommen sind etwa Geflüchtete, die bei ihrer Kernfamilie oder in ihrer Nähe wohnen möchten sowie verletzliche Personen, die eine besondere Betreuung brauchen. Zudem wird darauf geachtet, dass aus der Ukraine eingereiste Kernfamilien zusammenbleiben können.
Sobald eine Person einem Kanton zugeteilt ist, ist dieser für deren Unterbringung und Betreuung zuständig. Dazu gehört im Bedarfsfall auch die Ausrichtung der Sozialhilfe, welche den Grundbedarf des täglichen Lebens in der Schweiz deckt.
Berufsqualifikationen «vergleichsweise gut»
Weiter geht es auch darum, den Geflüchteten möglichst Arbeit zu verschaffen. Im Kanton Zürich beispielsweise haben seit Mitte März etwas mehr als 100 Flüchtlinge aus der Ukraine eine Arbeitsstelle gefunden: Das kantonale Amt für Wirtschaft und Arbeit hat für Personen mit Schutzstatus S Arbeitsbewilligungen über alle Branchen hinweg erteilt.
Das SEM hat in einer Stichprobe die Berufsqualifikationen der ukrainischen Flüchtlinge untersucht. Rund ein Viertel hat demnach einen akademischen Beruf oder arbeitete im Dienstleistungs- und Verkaufssektor, jeweils gut ein Zehntel machen Handwerker und Technikerinnen aus. Der Grossteil sind Frauen.
«Die beruflichen Qualifikationen sind vergleichsweise gut», so Philipp Berger, Abteilungschef Zulassung Arbeitsmarkt im SEM. Allerdings lasse sich nicht jede Qualifikation eins zu eins übertragen, teils auch wegen sprachlicher Hürden.
Bis zu 150'000 Flüchtlinge
Wie sich die Situation weiter entwickelt, bleibt unklar. Man gehe Richtung 50'000 Flüchtlinge, je nach Entwicklung könnten es «vielleicht auch noch 150'000 dieses Jahr» werden, so Keller. «Wir haben eine grosse Aufgabe vor uns!»
Derzeit hat man die Lage aber noch im Griff: Bund und Kantone verfügen zurzeit über genügend Plätze für die Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine. Von den gut 9000 Betten des Bundes sind derzeit rund 5000 belegt. Auch die Kantone haben noch genügend Reserven, um die ihnen zugewiesenen Menschen mit Schutzstatus S aufzunehmen. Aktuell melden sich täglich jeweils 500 bis 1000 Personen neu an.
Herausforderung auch für Städte
Langfristig macht sich der Winterthurer Stadtrat Nicolas Galladé allerdings Sorgen bezüglich der Unterbringung der Geflüchteten. Es sei anzunehmen, dass die Gastfamilien ihre eigenen vier Wände mit der Zeit wieder für sich haben wollten.
Dann müsse die Stadt auch auf dem privaten Markt Wohnungen suchen. Zudem stellten sich Fragen bei der längerfristigen Integration und im Schulbereich.