Das Rattern des Zuges war das Einzige, was die Schweizer Delegation um Nationalratspräsidentin Irène Kälin (35, Grüne) von der Fahrt durch die nächtliche Ukraine mitbekam. Die Fenster des Nachtzugs waren zugeklebt oder mit Rollos verdeckt. Eine Sicherheitsmassnahme, damit der Zug kein Angriffsziel bietet.
Sie trete die Reise mit einem mulmigen Gefühl und grossem Respekt an, hatte Kälin ihre Gefühlslage vor der Abreise zusammengefasst. Je näher man der Hauptstadt Kiew kam, so der Eindruck, desto grösser wurde das mulmige Gefühl bei ihr und ihren Mitreisenden. «Das wird nicht einfach», meinte SP-Fraktionschef Roger Nordmann (49) auf der Liege im Schlafwagen sitzend.
Auch Botschafter reisten mit
Nebst Nordmann und seinen Nationalratskollegen Yves Nidegger (64, SVP) und Nik Gugger (51, EVP) begleiteten auch der Schweizer Botschafter in der Ukraine, Claude Wild (58), und sein ukrainischer Konterpart in der Schweiz, Artem Rybchenko (38), die Aargauer Grüne auf dem Kurzbesuch ins Kriegsgebiet.
Nach rund zehn Stunden Zugfahrt trafen Kälin und ihre Begleiter in Kiew ein. Die Schweizer Delegation war auf Einladung des ukrainischen Parlamentspräsidenten ins Kriegsland gereist. Das Programm musste laufend angepasst werden. Bis am frühen Nachmittag war unklar, ob Kälin auch den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44) treffen würde.
Treffen mit Präsident Selenski
Die beiden schüttelten sich schliesslich am Nachmittag die Hand, am Rande einer Sitzung mit lokalen Behörden. Selenski habe beim kurzen Treffen seine Dankbarkeit für die Solidarität der Schweiz ausgedrückt. «Und wir haben selbstverständlich zum Ausdruck gebracht, wie stolz wir auf die Ukrainerinnen und Ukrainer sind», sagte Kälin im Anschluss zu Blick. Selenski sei ein «ausserordentlicher Held in diesen Zeiten» und trotz allem «ein einfacher Mensch, überhaupt nicht abgehoben». Für Kälin ist ein Besuch in der Ukraine das Mindeste, was man derzeit tun könne, um Unterstützung auszudrücken. Die Nationalratspräsidentin rief auch Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis (61) dazu auf, in die Ukraine zu reisen. «Ich fand es wahnsinnig wertvoll, mich mit dem Parlamentspräsidenten zu unterhalten, und ich glaube, es wäre auch wertvoll für unseren Aussenminister, sich mit seinem Gegenüber in der Ukraine zu treffen.»
Botschafter Claude Wild sagt, er sei froh, dass Kälin den Entscheid getroffen habe. Es sei ein wichtiges Zeichen für die Ukrainerinnen und Ukrainer, wenn die höchste Schweizerin sich vor Ort «ein Bild des Leids» mache, «das mittlerweile 42'000 Ukrainer in die Schweiz getrieben hat».
Ausgebrannte Panzer am Strassenrand
Vor dem Besuch des politischen Zentrums waren Kälin und ihre Begleiter mit zwei weiteren ausländischen Delegationen unter anderem nach Hostomel gefahren worden, einem Vorort Kiews. «Auf dem Weg sahen wir unzählige ausgebrannte Panzer und zerstörte Lastwagen», erzählt SP-Nationalrat Nordmann. «In den Trümmern lägen noch immer Leichen, haben sie uns gesagt.»
Gross ist die Zerstörung auch am Flughafen von Hostomel. Von der Antonow An-225, dem grössten Transportflugzeug der Welt, ist nur noch ein verkohltes Wrack übrig. Dieses im Rücken, hatte sich der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk (46) an die ausländischen Gäste gewandt. Es gehe ihm nicht nur darum, ihnen das Ausmass der Zerstörung zu zeigen. «Sie sehen auch den heldenhaften Kampf, den die Menschen hier in den vergangenen zwei Monaten geführt haben.»
Wie geht es der Bevölkerung?
Hier im Zentrum der Ukraine ist der Ausnahmezustand – vorerst – einem für Besucher surrealen Kriegsalltag gewichen. Vor Cafés stehen Menschen Schlange, während wenige Schritte weiter ein zerbombtes Haus steht. In der Kiewer Innenstadt joggen Menschen an patrouillierenden Soldaten vorbei. In den Fluren des Parlamentsgebäudes passieren die Schweizer Schutzwälle aus Sandsäcken, gleichzeitig sitzen draussen junge Menschen in der Sonne und essen Pizza.
Wie geht es diesen Menschen, die trotz des Kriegs in ihrer Heimat geblieben sind? Für Gespräche mit der Bevölkerung blieben Kälin und ihren Kollegen auf ihrem eng getakteten Kurztrip in die Ukraine keine Zeit. Weniger als zwölf Stunden nach der Ankunft am Kiewer Bahnhof stand die Schweizer Delegation wieder am Perron. Und wartete auf den Nachtzug zurück nach Polen.