SVP-Bundesrat muss im EU-Dossier liefern
Für Parmelin wirds ungemütlich

Mit seiner Europa-Offensive überrumpelte der Bundesrat alle. Welche Rolle SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider dabei spielte – und warum SVP-Bundesrat Guy Parmelin nun vor einer schwierigen Aufgabe steht.
Publiziert: 02.04.2023 um 01:01 Uhr
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Aktualisiert: 02.04.2023 um 16:33 Uhr
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Der Bundesrat will die Blockade lösen: In den Beziehungen mit der EU soll es vorwärts gehen (im Bild: Aussenminister Ignazio Cassis, r., mit EU-Kommissar Maroš Šefčovič)
Foto: keystone-sda.ch
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Camilla AlaborRedaktorin

Das gelingt selten: Der Bundesrat überrascht ganz Bundesbern. Ausgerechnet in der Europa-Frage – jenem Dossier, dessen vertrauliche Inhalte zuverlässig ihren Weg in die Medien finden. Doch diesmal waren nicht einmal die eigenen Parteipräsidenten vorinformiert. Entsprechend glich der Beschluss vom Mittwoch, im Europa-Dossier vorwärtszumachen, einem Paukenschlag.

Konkret beschloss die Regierung, bis Ende Juni «Eckwerte» eines Verhandlungsmandats zu definieren. Zudem soll das Wirtschaftsdepartement Vorschläge machen, wie sich der Lohnschutz im Inland absichern lässt.

Den Beschluss hatte auch deshalb niemand erwartet, weil in einem halben Jahr Wahlen sind – und sich sämtliche Parteien davor fürchten, der SVP mit einer neuerlichen Souveränitätsdebatte ein Wahlgeschenk zu machen. Weshalb handelte der Bundesrat also ausgerechnet jetzt?

Fortschritte

Der Bundesrat schreibt in seinem Communiqué gleich zweimal von einer «positiven Dynamik», die es derzeit gebe. Tatsächlich haben die Sondierungsgespräche zwischen Bern und Brüssel dem Vernehmen nach das gegenseitige Verständnis gefördert. Auch der Besuch von EU-Kommissar Maros Sefcovic (56) in Freiburg vor drei Wochen brachte neuen Schwung in die Beziehungen mit der EU. Anders als beim ersten Treffen, das von Missverständnissen geprägt war, verlief die zweite Gesprächsrunde zwischen Sefcovic und Aussenminister Ignazio Cassis (61) offenbar in einer freundschaftlichen Atmosphäre.

Geholfen hat dem Bundesrat auch die Stellungnahme der Kantone, Schlüsselakteur im Europa-Dossier. Die Mitteilung, wonach alle 26 Kantone neue Verhandlungen mit der EU unterstützen und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Instanz akzeptieren, war ein Steilpass für Aussenminister Cassis.

Und dann ist da noch Elisabeth Baume-Schneider (59). Die SP-Bundesrätin sei gegenüber Verhandlungen mit der EU offener als ihre Vorgängerin Simonetta Sommaruga (62), heisst es von Polit-Insidern. Dank ihrer jurassischen Herkunft wisse sie um die Wichtigkeit von guten Beziehungen mit den Nachbarstaaten. Auch verstehe sie sich gut mit Cassis, der in der vorherigen Konstellation oftmals isoliert war.

Der Druck wächst

Klar ist aber auch: Der Bundesrat konnte die Erwartung der EU, sich zu bewegen, nicht länger ignorieren. In einer Zeit, in der die Schweiz international unter Druck steht – Stichwort Waffenexporte, Neutralität, Bankenkrise – ist man offensichtlich zum Schluss gekommen, dass ein Zeichen des Entgegenkommens an die EU angebracht ist. Auch innenpolitisch wächst vonseiten der Wirtschaft und Forschung der Unmut über den anhaltenden Stillstand.

Direkt zu spüren bekommt das Guy Parmelin (63). Der SVP-Bundesrat ist als Wirtschafts- und Bildungsminister zuständig für jene Dossiers, in denen sich die Blockade am stärksten bemerkbar macht. Die Folge: Beinahe wöchentliche Appelle von Wirtschaft und Wissenschaft an seine Adresse.

Als wäre das nicht genug, landet nun eine neue, beinahe unlösbare, Aufgabe auf seinem Pult. Das Wirtschaftsdepartement soll gemeinsam mit den Sozialpartnern und Kantonen Vorschläge zur Sicherung des Lohnschutzes ausarbeiten. Seco-Staatssekretärin Helene Budliger Artieda (58) soll einen Weg finden, der sowohl für die Gewerkschaften als auch für die Arbeitgeber akzeptabel ist. So der Auftrag des Bundesrats.

Kampf auf verlorenem Posten

Für Parmelin wird die Situation damit nochmals ein bisschen ungemütlicher. «Er kann nur verlieren», bringt es ein Polit-Beobachter auf den Punkt. Die SVP wird kaum goutieren, wenn ihr eigener Bundesrat als Geburtshelfer im Europa-Dossier amtet. Auf der anderen Seite drängen Wirtschaft, Wissenschaft, Kantone und Pro-Europäer im Parlament und Bundesrat auf eine Lösung.

Aber lässt sich der gordische Knoten überhaupt zerschlagen? Sicher ist: Der Lohnschutz bildet derzeit den grössten europapolitischen Stolperstein. Bei den staatlichen Beihilfen scheint eine Einigung möglich; bei der Unionsbürgerrichtlinie könnten Schutzklauseln einen Kompromiss ermöglichen. Selbst der EuGH hat einiges von seinem Schrecken verloren, wie das Statement der Kantone zeigt.

Der Bundesrat will offenbar glauben, dass beim Lohnschutz eine Lösung möglich ist. Interessant: Die Gewerkschaften geben sich derzeit auffällig zurückhaltend. Zwar bleiben sie bei ihrer Aussage, ein Abbau des Lohnschutzes komme nicht infrage. Darüber hinaus äussert sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund vorerst nicht weiter zum Thema.

Dies stellt für Aussenminister Cassis bereits einen Erfolg dar.

Er kommt nicht von ungefähr.

Neues Gremium

Mit der Schaffung eines sogenannten Sounding Boards hat es Cassis geschafft, die wichtigsten Akteure – Gewerkschaften, Arbeitgeber, Kantone, Wirtschaft – in die europapolitische Diskussion einzubinden. Die Teilnehmer erfahren, was der Stand der Sondierungsgespräche ist – und können sich direkt einbringen. Dass von diesen Gesprächen so gut wie nichts via Medien nach aussen gedrungen ist, hängt auch mit einer neuen Regel zusammen: Die Teilnehmer der exklusiven Runde dürfen sich nicht vertreten lassen. Das habe geholfen, Vertrauen aufzubauen, sagt einer der Beteiligten.

Ob das ausreicht, um eine Lösung zu finden, werden die nächsten Monate zeigen. Wobei der Bundesrat mit seiner Kommunikation das Kunststück geschafft hat, sowohl den Eindruck von Fortschritt zu erwecken als auch die Tür so weit wie möglich offen zu lassen.

So will er bis Ende Juni die Eckwerte eines Mandats festlegen – aber eben nur die Eckwerte. Heisst: Bis wann das Verhandlungsmandat tatsächlich feststehen wird, steht in den Sternen. Als ziemlich sicher gilt, dass der Bundesrat bis nach den Wahlen vom Oktober 2023 zuwarten dürfte. Denn an einem Wahlgeschenk an die SVP hat auch der Bundesrat kein Interesse – zumindest fünf der sieben Mitglieder.

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