Was bedeutet Neutralität, wenn in Europa Krieg herrscht? Die Schweiz tut sich mit einer Antwort schwer. Als der Bundesrat die EU-Sanktionen gegen Russland nur zögerlich übernahm, fiel die Kritik im Inland heftig aus. Auch im europäischen Ausland, schien es, stiess die Schweizer Neutralität zusehends auf Unverständnis – die Eidgenossenschaft wurde gar als Trittbrettfahrerin wahrgenommen.
Vor diesem Hintergrund beauftragte Aussenminister Ignazio Cassis (61) im Frühling sein Departement, einen aktualisierten Bericht zur Neutralität zu verfassen. Gleichzeitig verwendete er im Mai erstmals den Begriff der «kooperativen Neutralität», wobei der konkrete Inhalt damals weitgehend nebulös blieb.
Stärkere Abstimmung mit EU und Nato
Der bisher unveröffentlichte Neutralitätsbericht, der SonntagsBlick vorliegt, füllt das Konzept nun mit Leben. Gemäss dem Entwurf des Aussendepartements ist die kooperative Neutralität eine Weiterentwicklung des Status quo. Der Export von Rüstungsmaterial an Kriegsparteien bliebe verboten; in anderen Bereichen würde diese neu verstandene Neutralität dem Bundesrat aber mehr Handlungsfreiheit einräumen. So soll die Schweiz beim Export von Rüstungsgütern auf ein Wiederausfuhrverbot verzichten können. Das würde es Partnerstaaten wie Deutschland ermöglichen, Kriegsmaterial aus der Schweiz an die Ukraine zu liefern.
Zudem würde die kooperative Neutralität der Schweiz erlauben, sich stärker mit der EU oder der Nato abzustimmen, heisst es im Bericht. Damit zeige das Land «Bereitschaft, mehr Mitverantwortung für die Sicherheit in Europa zu tragen». Um die kooperative Neutralität umzusetzen, wären demnach einige Gesetzesänderungen nötig.
«Nicht im Interesse der Schweiz»
Als weitere Möglichkeiten für die Weiterentwicklung der Neutralität listet der Bericht den Status quo auf, eine Ad-hoc-Neutralität, die integrale Neutralität oder einen Nato-Beitritt. Die letzten beiden Optionen seien «Polvarianten»: Die integrale Neutralität würde auf eine Reduktion der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in Europa hinauslaufen; mit einem Nato-Beitritt gäbe die Schweiz ihre Neutralität auf. Diese Optionen sind laut Aussendepartement «nicht im Interesse der Schweiz». Eine Ad-hoc-Neutralität wiederum würde bedeuten, dass die Schweiz «fallweise» auf die Neutralität verzichtet.
Der Bericht des Aussendepartements kommt klar zum Schluss, dass die kooperative Neutralität die beste Variante wäre. Ob das die übrigen Bundesratsmitglieder auch so sehen, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.