Das Leid der Geflüchteten trifft Ignazio Cassis (60, FDP) tief. Diese Woche reiste er an die polnischukrainische Grenze, um mit jenen zu sprechen, die die Bomben im Rücken und die Ungewissheit vor sich haben. «Wie alle Menschen meiner Generation hätte ich nie gedacht, dass ich jemals einen Krieg miterleben werde», sagte Cassis später zu Blick. Das gleichentags veröffentlichte Bild eines von seinen Emotionen überwältigten Bundespräsidenten drückt aus, was viele fühlen: Mitgefühl und Hilfsbereitschaft, Ohnmacht und Trauer. Ein Bild, das bleibt.
Der Krieg ist zurück in Europa und zwingt die Schweiz, alte Gewissheiten zu überdenken. Kein Politiker steht in dieser Umwälzung stärker im Fokus als der Bundespräsident und Aussenminister. Am Umgang mit dieser Zäsur wird er gemessen. Ein Monat nach Kriegsbeginn lässt sagen: Geradlinig verläuft sein Kurs nicht.
Eigentlich hatte sich Cassis für sein Präsidialjahr etwas ganz anderes vorgenommen. Den Zusammenhalt des Landes wollte er betonen, den Reichtum seiner Kulturen herausstreichen. Seine Entourage hoffte auf die Chance, in der Öffentlichkeit endlich ein wenig zu glänzen. Nun aber steckt Cassis mitten in einer Ausnahmesituation; aus einem Jahr zwischen Buurezmorge und Swissminiature wurde eine Auseinandersetzung um die Grundzüge der Aussenpolitik, die Auslegung der Neutralität und nicht zuletzt um die politische Zukunft des ersten Tessiner Bundesrats seit Flavio Cotti.
Die Sehnsucht nach dem ganz grossen historischen Auftritt
In den Wochen nach Kriegsausbruch hat Cassis langsam Tritt gefasst. Ehrfürchtig schildert das Umfeld des Aussenministers Arbeitstage, die kaum noch enden wollen, aber stets im Morgengrauen beginnen. Zupackend gehe der Chef zu Werk, das ist die Botschaft.
In die Krise hinein ist der Bundespräsident aber regelrecht gestolpert. Zwar geisselte er schon Stunden nach Beginn der Invasion die russische Aggression und die Verletzung des Völkerrechts. Die Sanktionen der EU aber wollte die Regierung dann doch nicht mittragen. Nachdem Cassis an diesem schwierigen Nachmittag Ende Februar sein Statement verlesen hatte, verliess er die Pressekonferenz bereits nach wenigen Minuten. Auch das ein Bild, das bleiben wird.
Sicher ist, dass das Aussendepartement (EDA) von Ignazio Cassis in den ersten Tagen nach Putins Überfall unter allen Umständen seine Chancen wahren wollte, die Rolle des Vermittlers zu übernehmen. Aus dieser Haltung spricht der Wunsch, Frieden zu stiften. Aber auch die Sehnsucht nach dem ganz grossen historischen Auftritt. Das bremste jene, die sich die scharfen Massnahmen der Europäer rasch zu eigen machen wollten.
Warme Worte und Warten auf Taten
Es brauchte viel Druck von der Strasse, aus dem Ausland und dem eigenen Parlament, bis der Bundesrat diese Linie korrigierte. Als aber Cassis den Kurswechsel am Abend vor der eigentlichen Bundesratssitzung im Westschweizer Fernsehen vorab ankündigte, fühlten sich manche Bundesratskollegen hintergangen. Das sorgt bis heute für böses Blut. Ohnehin sei die Stimmung im Gremium schwierig, berichten bundesratsnahe Quellen. Die Wahlen vom kommenden Jahr werfen ihren Schatten voraus, der Kitt aus der Corona-Krise bröckelt.
Statt als Vermittler zwischen Kiew und Moskau fand Cassis seine Bühne auf dem Berner Bundesplatz. Tausende folgten vor einer Woche dem Aufruf der ukrainischen Diaspora zur Kundgebung. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) schaltete sich live zu. Cassis begrüsste ihn im vertrauten Ton: «Lieber Präsident, du siehst Menschen, die tief beeindruckt sind. Beeindruckt vom Mut, mit dem dein Volk für Demokratie, für Freiheit und für Frieden kämpft.»
Die Linke lobt diese warmen Worte – und vermisst die Taten. «Dass ein Bundespräsident sich nicht vor den Kameras versteckt, versteht sich von selbst», sagt der Präsident der Grünen, Balthasar Glättli (50, ZH). «Für mich passt es aber nicht zusammen, wenn der Bundespräsident sich auf dem Bundesplatz öffentlich mit der Ukraine solidarisiert, der Bundesrat aber nichts unternimmt, um die Vermögen russischer Oligarchen aktiv aufzuspüren oder den Rohstoffhandel endlich zu regulieren.»
FDP-Parteichef Thierry Burkart (46, AG) stellt sich in der «Weltwoche» schützend vor den Bundespräsidenten. «Ist ein ausländischer Staatspräsident zugegen, ist die Präsenz des Bundespräsidenten gerechtfertigt.»
Nicht staatsmännisch?
Es gibt aber auch Leute im Freisinn, die Mühe haben mit Cassis’ Auftritt. Und die SVP, die einst half, den Tessiner ins Amt zu wählen, rotiert ohnehin. Sie sieht die Schweizer Neutralität vor dem Aus. «Wenn Cassis glaubt, dass alle in der SVP-Fraktion das einfach so hinnehmen, täuscht er sich. Sollte es nächstes Jahr eng werden für ihn, werden sich einige an seine Fehler im Präsidialjahr erinnern», droht der St. Galler SVP-Nationalrat Roland Rino Büchel (56). «Im Moment würde es mir schwerfallen, ihm meine Stimme zu geben.»
Auch in den anderen Departementen schütteln manche den Kopf. Nicht staatsmännisch, lautet ein Urteil, das öfter zu hören ist. Cassis hätte besser eine ausserordentliche Bundesratssitzung einberufen: Streng nach Plan wäre diese Woche nämlich kein Treffen der Landesregierung angesetzt gewesen. Es gehe aber nicht, dass der Bundesrat in einer solchen Lage während zwölf Tagen nicht zusammenkomme, hiess es. Man habe den Bundespräsidenten zur Sitzung von vorgestern Freitag drängen müssen.
Cassis begegnet den Angriffen gelassen. «Uns war sehr bewusst, dass diese Aktion nicht allen gefallen wird», erklärte er im Blick-Interview.
Unruhe im Bundesrat, Kritik von links und von rechts, ein Wahljahr, das drohend näherrückt: Ignazio Cassis tut gut daran, sich etwas von dieser Gelassenheit zu bewahren.