Keine Verschnaufpause für Ignazio Cassis (60). In seiner Doppelfunktion als Bundespräsident und Aussenminister diktiert die Krise in der Ukraine zurzeit die Agenda des Tessiners. Am Samstag stand der FDP-Bundesrat noch auf dem Bundesplatz, um dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44) zuzuhören, der an eine Kundgebung zugeschaltet wurde. Kurz darauf reist der Aussenminister nun selbst Richtung Osten. Cassis wird am Montag in der polnischen Hauptstadt Warschau erwartet, wo er sich mit dem Vorsitzenden des polnischen Ministerrats, Mateusz Morawiecki, (53) trifft.
Im Anschluss besucht die Schweizer Delegation das Umschlagzentrum der humanitären Hilfe in Lublin, um sich mit dem Schweizer Expertenteam vor Ort austauschen. Anschliessend geht die Reise an die ukrainische Grenze, wo Cassis ein Flüchtlingszentrum besucht.
Unterstützung in Moldawien
Am Dienstag wird der Bundespräsident nach Chisinau, der Hauptstadt von Moldawien, weiterreisen. Mit der Präsidentin Maia Sandu (49) wird Cassis die Frage diskutieren, wie die Schweiz das Land bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme am besten unterstützen kann. «Die beiden Staaten pflegen enge Beziehungen, und die Schweiz gehört zu den wichtigsten bilateralen Geberländern», hält das Aussendepartement fest.
Zur Schweizer Delegation gehören SVP-Nationalrat Franz Grüter (58) und seine SP-Amtskollegin Edith Graf-Litscher (57). Mit dabei ist auch der Schweizer Botschafter für die Ukraine und Moldawien, Claude Wild (58). Auch in Moldawien wird die Delegation ein Flüchtlingszentrum besuchen. Blick begleitet diese Reise und wird während der zwei Tage von den verschiedenen Stationen berichten.
Schweizer Experten vor Ort
In den vom Konflikt betroffenen Gebieten wird die Lage immer schwieriger. Inzwischen ist die Zahl der Geflüchteten auf über drei Millionen gestiegen, davon befinden sich zwei Millionen in Polen.
Auch unter der in der Ukraine verbliebenen Bevölkerung besteht grosse Not: 13 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe und Schutz, wie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) am Wochenende betonte. Da die Grundversorgung unterbrochen ist, «sind sie nicht in der Lage, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, insbesondere nach Nahrung, Wasser und Medikamenten», so das UNHCR. Insgesamt seien mehr als zehn Millionen Menschen aus ihren Häusern geflohen, was einem Viertel der Bevölkerung entspreche.
Auf Schweizer Seite hat der Bundesrat bereits am 11. März entschieden, die humanitäre Hilfe auf insgesamt 80 Millionen Franken zu erhöhen. Die Schweiz hat bereits über 500 Tonnen Hilfsgüter in die Region geschickt und zwei Expertenteams aus Mitgliedern des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe nach Polen und Moldawien entsandt.
Sorge wegen Menschenhandel
Ein weiteres Problem, das Anlass zur Sorge gibt, ist der potenzielle Menschenhandel. Die meisten der drei Millionen Flüchtlinge sind Frauen, Kinder und ältere Menschen, die oft von ihren Angehörigen getrennt sind.
«Diese Menschen mussten überstürzt fliehen, wurden von ihrem sozialen Umfeld getrennt und ihre finanzielle Sicherheit ist ernsthaft gefährdet», warnte António Vitorino (65), Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration (IOM). «Das macht sie zu besonders gefährdeten Zielen für Menschenhandel aller Art.»
In den Nachbarländern der Ukraine, die Flüchtlinge aufgenommen haben, wurden bereits Fälle von sexueller Gewalt oder versuchtem Menschenhandel gemeldet.