Ignazio Cassis (60) hatte wohl damit gerechnet, dass sein Besuch in Polen emotional werden würde, aber kaum, wie sehr. Der Bundespräsident befand sich in einem Flüchtlingszentrum in Chelm, nur einen Katzensprung von der Ukraine entfernt, als er einige Sekunden brauchte, um seiner Emotionen Herr zu werden.
Was war passiert? Eine Dolmetscherin, selbst Ukrainerin, war mehrfach in Tränen ausgebrochen, als sie ihm die traumatischen Lebensgeschichten von Frauen übersetzte, die Dnepr und Mariupol verlassen mussten. Als Cassis einige Minuten später den Mitgliedern der Schweizer Delegation diese Episode erzählte, wurde er selbst von Emotionen eingeholt. Niemanden, auch nicht den Bundespräsidenten, lässt das Schicksal der Ukraine und ihrer Menschen kalt. Cassis nahm sich Zeit für die dramatischen Geschichten der Menschen in Chelm.
Waffenlieferungen liegen nicht drin
Die Episode ereignete zum Abschluss eines Marathon-Tages, auf dem Blick Cassis begleiten durfte. Am frühen Montagmorgen war der Bundespräsident vom polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki (53) empfangen worden. Dieser forderte die Schweiz auf, russische Vermögenswerte zu konfiszieren und sie der ukrainischen Sache zukommen zu lassen. «Er verlangte auch, dass wir Waffen liefern. Aber ich habe ihm erklärt, dass dies nicht mit der Schweizer Neutralität vereinbar ist», so Cassis gegenüber Blick.
Darauf reiste Cassis nach Lublin in Ostpolen, um Hilfslieferungen aus der Schweiz zu begutachten. «Ihr Land hat uns am schnellsten geholfen, und ich danke Ihnen dafür», sagte ein Vertreter des Aussenministeriums. Cassis erklärte, dass der Bundesrat humanitäre Hilfe im Wert von 80 Millionen Franken weitergeleitet habe, die Bevölkerung aber mit Spendenzusagen noch weiter gegangen sei.
Schwindelerregende Flüchtlingszahlen
Die Flüchtlingszahlen, die dann in Dorohusk, einem Grenzübergang zur Ukraine, bekannt gegeben wurden, sind schwindelerregend: An manchen Tagen reisen mehr als 80'000 Personen nach Polen ein. Das entspricht der Einwohnerzahl der Stadt Luzern. Insgesamt haben mehr als zwei Millionen Ukrainer das Nachbarland durchquert.
«Es war meine Pflicht, nach Polen und Moldawien zu kommen, in die Länder, die direkt von diesem absurden Krieg betroffen sind», so der Bundespräsident. Cassis zeigte sich vom Konflikt sehr betroffen: «Wie alle Menschen meiner Generation hätte ich nie gedacht, dass ich jemals einen Krieg miterleben werde.»
«Wir müssen von dieser Solidarität lernen»
Die Solidarität in Polen ist überwältigend – in einem Land, in dem das Durchschnittsgehalt bei etwa 600 Franken liegt. Das beeindruckt auch Edith Graf-Litscher (57). Die SP-Nationalrätin ist als Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission Teil der Schweizer Delegation. «Wir müssen von dieser Solidarität lernen, von der Stärke dieser polnischen Gesellschaft, die als Ganzes und nicht als Einzelne denkt», lobte die Thurgauerin.
Die Anteilnahme aber kommt nicht bei allen gleich gut an. Cassis kam auch auf die Kritik zu sprechen, die sein Auftritt am Rand einer Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44) vom Sonntag ausgelöst hatte. Insbesondere die SVP zeigt sich darüber empört. «Es hat sich so ergeben», so Cassis zu seinem Auftritt. Man habe ihm von der Veranstaltung erzählt und gefragt, ob er auf den Bundesplatz kommen wolle. «Ich habe mich entschieden, das zu tun.»
Die Schweizer Delegation reiste noch am Montag weiter nach Moldawien, wo Cassis am Dienstag mit Präsidentin Maia Sandu (49) zusammentreffen wird, bevor er am Abend in die Schweiz zurückkehrt.