Das Resultat widerspricht allen gängigen Klischees. 200 Musliminnen hat die französische Soziologin Agnès de Féo regelmässig in ihrem Alltag begleitet. Über ein Jahrzehnt lang. Dabei hat sie erforscht, warum sich Frauen in Frankreich für die Vollverschleierung entscheiden. In unserem Nachbarland ist diese bereits seit 2010 im öffentlichen Raum verboten.
Veröffentlicht hat de Féo die Ergebnisse ihre Studie in ihrem Sachbuch «Derrière le Niqab» («Hinter dem Nikab»). Ihre Schlüsse: Frauen verhüllen sich weniger aus Frömmigkeit denn aus Protest gegen Familie und Gesellschaft. Und: Das Burkaverbot war kontraproduktiv.
«Völlig überzogen und hysterisch auf den Vollschleier reagiert»
«Mein Buch zerstört die imaginären Konstrukte von der ferngesteuerten Burkaträgerin», sagt de Féo gegenüber dem deutschen Sender «Deutschlandfunk». Der bisherige Diskurs in Frankreich werde vorab von islamophoben Rechtsextremen und Populisten geführt, was ein falsches Bild zeichne. «Aber auch Medien, Feministinnen und Universalisten haben völlig überzogen und hysterisch auf den Vollschleier reagiert.»
Das Thema ist auch bei uns ein politischer Dauerbrenner. Seit geschlagenen 15 Jahren diskutiert die Schweiz über ein Burkaverbot. Nun hat die Stimmbevölkerung das letzte Wort: Am 7. März kommt die Initiative aus SVP-Kreisen an die Urne.
Die Ausgangslage allerdings ist eine andere als in Frankreich. Verlässliche Zahlen dazu, wie viele Frauen in der Schweiz Burka oder Nikab tragen, gibt es zwar nicht. Geschätzt wird aber, dass es lediglich einige Dutzend sind – Touristinnen ausgenommen. Der Anteil der muslimischen Bevölkerung ist in Frankreich allerdings deutlich höher als bei uns. Entsprechend gehörten Gesichtsschleier bis zum Verbot auch vermehrt zum Strassenbild.
Meist moderne, westliche Frauen
Diskutiert wird aber auch bei uns die Burka vor allem als Instrument zur Unterdrückung der Frau. Das solle mit dem Verbot bekämpft werden. Für Wissenschaftlerin de Féo ist mittlerweile klar: Das funktioniert so nicht! Es habe sich gezeigt, dass es sich bei den Nikabträgerinnen in Frankreich um moderne, westliche Frauen handelt.
Die meisten Frauen seien weit davon entfernt, sich den Vollschleier von einem Mann oder der Salafisten-Szene aufzwingen zu lassen. «Diese Frauen haben einen feministischen Diskurs. Sie sind überwiegend Singles, oft alleinerziehend, stehen absolut nicht unter der Fuchtel irgendwelcher Männer», betont de Féo.
Viele tragen den Gesichtsschleier gerade wegen des Verbots
Zudem gäbe es Frauen, die sich seit dem Verbot in die eigenen vier Wände zurückgezogen hätten. Andere trügen nun in der Corona-Krise statt des Schleiers eine Schutzmaske. Die meisten aber haben sich laut der Forscherin erst wegen des Burkaverbots und der vorangegangenen Diskussion für die Vollverschleierung entschieden. Ein spontaner Protest: «Sie haben den Nikab getragen, bevor sie ein Minimum an religiösem Basiswissen hatten», sagt de Féo.
Vielen gehe es um eine Rebellion gegen die Familie, gegen die Gesellschaft – und natürlich gegen das Nikabverbot, das sie als entmündigend kritisieren. Aber auch ein Bedürfnis nach öffentlicher Aufmerksamkeit sei typisch.
Gesetz hat die Frauen radikalisiert
In die radikale Islamismus-Szene sei dagegen nur eine verschwindend kleine Minderheit der Musliminnen, die de Féo begleitet hat, abgerutscht. Und auch hier gilt: Für den Nikab hätten sie sich erst nach dem französischen Anti-Burka-Gesetz entschieden.
Für de Féo ist das kein Zufall: Ihre Langzeitstudie zeige deutlich, dass das Gesetz gegen die Vollverschleierung kontraproduktiv war. «Das Gesetz hatte ganz eindeutig einen verstärkenden Effekt auf das Nikab-Phänomen und auf die Radikalisierung von Frauen.»
Die Soziologin verweist auf den französischen Philosophen Montesqiueu (1689–1755), der bereits gesagt haben soll: «Man ändert Sitten nicht mit Verboten oder per Gesetz, man ändert sie durch andere Sitten.»