Rätselhafte Kehrtwende
Martullo-Blochers verlorene Liebe für ein Bündner Kraftwerk

Die Nationalrätin ist die mächtigste Gegnerin des neuen Stromgesetzes. Was kaum jemand weiss: Noch vor einem Jahr weibelte sie dafür, dass die Vorlage um ein Projekt «nationaler Bedeutung» ergänzt wird.
Publiziert: 05.05.2024 um 08:59 Uhr
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Aktualisiert: 06.05.2024 um 11:07 Uhr
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Das Wasserkraftwerk Chlus im Kanton Graubünden ...
Foto: KEYSTONE

In knapp einem Monat stimmt die Schweiz übers neue Stromgesetz ab. Es soll die Nutzung fossiler Energien einschränken und dennoch eine «verlässliche Stromversorgung» garantieren. Vorgesehen ist unter anderem, dass 16 Wasserkraft-Projekte von erleichterten Baubedingungen profitieren – während das Vetorecht von Natur- und Landschaftsschützern eingeschränkt wird.

Die entsprechenden Anlagen sind im Abstimmungsbüchlein namentlich festgehalten. Eines davon: das Wasserkraftwerk Chlus im Kanton Graubünden. Es wurde noch im letzten Moment in die Vorlage aufgenommen – auf Drängen von Magdalena Martullo-Blocher (54).

«Wichtiger Beitrag zugunsten der Umwelt»

Die Bündner Nationalrätin stellte am 9. März 2023 in der grossen Kammer einen Einzelantrag. In der kleinen Kammer portierte der Bündner Ständerat und Energiepolitiker Martin Schmid (54) das gleiche Anliegen.

Martullo-Blocher begründete ihren Antrag damit, das Projekt Chlus sei mit einer geplanten Jahresleistung von 240 Gigawattstunden (GWh) «ein Wasserkraftprojekt von nationaler Bedeutung». Zudem löse das Projekt das Problem der heutigen Abflussschwankungen des Flusses Landquart im unteren Prättigau. Damit leiste es «einen wichtigen Beitrag zugunsten der Sicherheit und der Umwelt».

Ihr Einsatz zahlte sich aus. Nach einigem Widerstand schaffte es das Projekt in den Mantelerlass von Energieminister Albert Rösti (56) über die künftige Stromproduktion. Martullo-Blochers Parteikollege zeigte sich erfreut: «Dass wir das Wasserkraftprojekt Chlus noch aufnehmen konnten, ist eine gute Sache», sagte der SVP-Bundesrat Ende September 2023 während der Herbstsession.

Mehr als ein Sinneswandel

Die Nationalrätin selbst hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits vom neuen Stromgesetz abgewandt. Nun bezeichnete sie die Vorlage, an der sie wenige Monate zuvor noch mitgewirkt hatte, plötzlich als «Bschiss»: «Dieser Mantelerlass bringt effektiv nur wenig Strom, aber sehr viele Kosten, die durch den Strompreis bezahlt werden müssen», sagte die Unternehmerin in einem Interview mit Blick.

Doch damit nicht genug. Nachdem Naturschutzverbände wie die Fondation Franz Weber erfolgreich das Referendum gegen die Vorlage ergriffen hatten, avancierte Martullo-Blocher zur grossen Widersacherin von Bundesrat Rösti.

Gemeinsam mit ihren engsten Verbündeten in der Partei – Präsident Marcel Dettling (43), Fraktionschef Thomas Aeschi (45) und Finanzchef Thomas Matter (58) – sorgte sie dafür, dass sich die SVP an der Delegiertenversammlung Ende März gegen das neue Stromgesetz aussprach.

Kopfschütteln, nicht nur in der Partei

Der Entscheid spaltet die Volkspartei bis heute. Viele Mitglieder der SVP-Bundeshausfraktion, die das Gesetz mehrheitlich gutgeheissen haben, fühlen sich vor den Kopf gestossen. Ganz zu schweigen von Rösti, der die Vorlage bereits als Parlamentarier aufgegleist hatte.

Doch nicht nur in der Partei sorgt das Vorgehen von Martullo-Blocher für Ärger. Auch in Graubünden, wo alle die grosse Bedeutung des Projekts Chlus betonen, schütteln bürgerliche Politikerinnen und Politiker den Kopf: «Diese Kehrtwende hat mich überrascht», sagt Mitte-Nationalrat Martin Candinas (43) zu Blick. FDP-Nationalrätin Anna Giacometti (62) wirft die Frage auf: «Warum hat sich Nationalrätin Martullo-Blocher für das Projekt Chlus eingesetzt, wenn sie schon damals gegen das Gesetz war?»

Die Hauptprotagonistin schweigt

FDP-Ständerat Schmid, der Chlus ursprünglich mit Martullo-Blocher gepusht hatte, will sich zum Sinneswandel seiner früheren Mitstreiterin nicht äussern. Die Bündner Regierungsrätin Carmelia Maissen (47), Vorsteherin des Departements für Infrastruktur, Energie und Mobilität, meint auf Anfrage nur: «Die Gründe für die Kehrtwende müssen Sie bei Frau Martullo selber in Erfahrung bringen.»

Blick hat das diese Woche versucht, mehrmals. Doch entsprechende Anfragen wurden leider nicht beantwortet.

Bleibt der Erklärungsversuch von Stefan Engler (63). Der Mitte-Ständerat geht davon aus, dass Chlus unabhängig von Martullo-Blochers Haltung realisiert wird und mutmasst deshalb: «Vielleicht schliesst sie auch nicht aus, dass trotz ihrer Ablehnung das Stromgesetz angenommen wird.»

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