Als die Taliban im August die afghanische Regierung stürzten, stand Amir Tahri* (39) wohl gerade in der Küche. Der Afghane verbringt die meiste Zeit in einem Restaurant in Oerlikon ZH und kocht chinesische Gerichte. «Ich habe dauernd Stress», sagt er. Nicht nur wegen der Arbeit, sondern vor allem wegen seiner Frau, die noch immer in Kabul lebt. «Wenn ich anrufe und sie nicht ans Telefon geht, fürchte ich um ihr Leben», sagt Tahri.
Um Kabul verlassen und in die Schweiz reisen zu können, reichte Amir Tahris Frau Dilara Tahri* (29) Ende Mai auf der Schweizer Botschaft in Islamabad ein Gesuch um Familiennachzug ein. Die Reise in die pakistanische Hauptstadt war nötig, weil die Schweiz keine Vertretung in Afghanistan besitzt. Seither warten die Tahris auf einen Bescheid der Behörden.
Ihre Schweizer Rechtsvertreterin hat bereits zweimal bei der Botschaft in Islamabad nachgefragt, ob das Verfahren angesichts der Krise in Afghanistan beschleunigt werden könnte. Die Antwort lautete beide Male Nein. Die Prüfung der eingereichten Dokumente dauere mindestens acht bis zehn Monate – Krise hin oder her.
Monatelang Dokumente prüfen
Die Tahris sind nicht die Einzigen, die warten. Viele der rund 20'000 Afghaninnen und Afghanen in der Schweiz beklagen Probleme beim Nachzug ihrer Ehepartner oder Kinder. Mehrere Rechtsvertreterinnen und Rechtsvertreter, mit denen Blick gesprochen hat, machen die Schweizer Behörden im Ausland dafür verantwortlich.
Sie sagen, dass es zum einen oft mehrere Monate dauere, bis die betroffenen Afghaninnen und Afghanen überhaupt einen Termin auf der Schweizer Botschaft in Pakistan oder im Iran erhielten. Zum anderen nehme die Prüfung der eingereichten Dokumente unverhältnismässig viel Zeit in Anspruch.
Mei Yi Lew, Rechtsberaterin beim Verein Asylex, sagt: «Der Familiennachzug ist oft langwierig. Aber im Fall von Afghanistan ist das besonders problematisch.»
Hungerkrise in Afghanistan
Denn die Menschen im Land leiden. Millionen haben nicht genug zu essen. Spitälern und Apotheken gehen die Medikamente aus. Und der harte afghanische Winter, der Minustemperaturen bringt, hat gerade erst begonnen.
Hinzu kommen die Taliban, die zwischen Chaos und Terror regieren. Frauen wie Dilara Tahri dürfen nicht arbeiten und nur verhüllt aus dem Haus. Am liebsten wäre es Amir Tahri sowieso, seine Frau würde in Kabul so selten wie möglich auf die Strasse. «Es kann jederzeit eine Bombe hochgehen», sagt er.
Wie um zu prüfen, ob seine Frau noch da ist, ruft er sie aus einem Café in Oerlikon ZH per Videocall auf dem Handy an. Als Dilara Tahri rangeht, sieht man sie kaum, der Hintergrund ist ganz schwarz. «Hallo», winkt sie in die Kamera, «der Strom ist gerade ausgefallen.»
Schwierige Papierbeschaffung
Kennengelernt haben sich Amir und Dilara Tahri über Facebook, als er bereits in der Schweiz lebte. Als Mitglied der schiitischen Hazara-Minderheit war er um die Jahrtausendwende vor den Taliban geflohen. Seine Nichte habe dann den ersten Online-Kontakt zu seiner Frau hergestellt, erzählt er. Später reiste er zurück nach Afghanistan, wo die beiden 2017 in seinem Heimatdorf heirateten.
Da Amir Tahri in der Schweiz über eine Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis) verfügt, kann er seine Ehefrau – und allfällige Kinder – ebenfalls in die Schweiz holen. Voraussetzung dafür ist, dass die Familie über eine genügend grosse Wohnung verfügt und nicht auf Sozialhilfe angewiesen ist.
Zudem musste Dilara Tahri im Mai auf der schweizerischen Botschaft in Islamabad zahlreiche Dokumente wie Pass, Geburts- und Heiratsurkunde, Wohnsitzbescheinigung oder Schulzeugnisse einreichen. Diese hatte sie noch vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul beschafft.
Afghanen zurückgeschickt
Für jene Afghaninnen und Afghanen, die seit dem Regimewechsel im August ein Gesuch um Familiennachzug einreichen wollen, ist die Situation ungleich komplizierter. Denn unter der neuen Führung ist es schwieriger, an die Dokumente zu kommen, die die Schweiz verlangt. Mit «Grüezi, ich hätte gerne eine Wohnsitzbescheinigung» kommt man bei den Taliban oft nicht weit. Die «NZZ am Sonntag» hatte jüngst darüber berichtet, dass die Taliban mit Stöcken auf Männer, Frauen und Kinder vor den Passbüros einprügeln und Elektroschockgeräte einsetzen, um die vielen Ausreisewilligen in Schach zu halten.
Asylex-Rechtsberaterin Mei Yi Lew sagt, die Papierbeschaffung in Afghanistan sei eines der grössten Probleme. Hinzu komme, dass die Schweizer Behörden kaum Rücksicht darauf nehmen würden. «Wir wissen von mehreren Fällen, in denen die Anträge von Afghaninnen und Afghanen von den Migrationsämtern oder Schweizer Auslandvertretungen zurückgewiesen wurden, weil ihnen einzelne Papiere fehlten.»
SP-Frau fordert mehr Personal
SP-Nationalrätin Samira Marti (27) hält die Bedingungen beim Familiennachzug für Afghaninnen und Afghanen für unhaltbar. Ihre Partei hatte sich nach dem Regimewechsel in Afghanistan erfolglos für die Aufnahme von rund 10'000 Flüchtlingen eingesetzt. Beim Familiennachzug sei die Ausgangslage eine andere, sagt sie: «Hier geht es nicht um eine humanitäre Geste, sondern darum, dass die Menschen ein Recht auf Familiennachzug haben.» Dieses Recht werde ihnen durch die bürokratischen Hürden faktisch verwehrt.
Samira Marti fordert den Bund deshalb dazu auf, das Personal in den Schweizer Auslandvertretungen umgehend aufzustocken, «damit mehr Termine angeboten und die Gesuche rascher bearbeitet werden können.»
Schweiz setzt sich für offene Grenzen ein
Das tut der Bund nun zumindest ansatzweise. In einer am Montag veröffentlichten Stellungnahme auf eine Frage Martis teilt der Bundesrat mit, dass die Vertretung in Islamabad ihre Kapazitäten erhöht habe, so dass die nächsten Termine ab Mitte Januar verfügbar seien – und nicht erst ab April. Zudem habe sich die Schweiz gemeinsam mit vier anderen Ländern bei Pakistan dafür eingesetzt, dass der Grenzübertritt aus Afghanistan möglich sei. Das ist im Moment nicht garantiert.
Das Problem der langen Wartezeiten von Amir Tahri und seinen Landsleuten ist damit allerdings nicht gelöst. Der Bundesrat schreibt, die Überprüfung afghanischer Urkunden sei zeitintensiv, weil kein zentrales nationales Zivilstandsregister existiere. Zudem beeinflusse der «regional unterschiedliche Zugang zu den Behörden» die Verfahrensdauer. Erleichterungen bei der Dokumentenprüfung erwähnt er keine.
Amir Tahri wartet
Amir Tahri lässt sich davon nicht entmutigen. Er habe schon an verschiedenen Orten in Zürich nachgefragt, ob es allenfalls einen Job für seine Frau gäbe, erzählt er. «Doch das ist schwierig, solange sie nicht hier ist.» Immerhin einen Vorteil hätte Dilara Tahri, sollte sie dereinst in die Schweiz reisen. Sie spricht bereits etwas Deutsch. Zeit zu üben, hatte sie schliesslich.
*Namen geändert