An einem Mittwochabend Mitte Mai kommt Nekane Txapartegi (49) in den Garten des «Park Platz», einer Bar im Zürcher Kreis 5. Sie geht mit entschlossenen Schritten, ihr Händedruck ist fest. Wer sie grüsst, erntet ein breites Lächeln. Im Bar-WC hängen «Free Nekane»-Sticker mit ihrem Gesicht. Dass sie hier sein kann, hat sie auch den Aufklebern zu verdanken.
Sie sind Teil einer Bewegung, die für ihre Freiheit kämpft. Die gebürtige Baskin galt in Spanien viele Jahre als Terroristin. In der Schweiz tauchte sie unter – bis zu ihrer Verhaftung 2016. Dies löste eine Welle der Solidarität aus.
Wie kommt es, dass sich hierzulande so viele für sie einsetzen?
Diktator verbot Bräuche der Basken
Nekane Txapartegi ist 1973 in der baskischen Kleinstadt Asteasu geboren und in den letzten Jahren des repressiven Franco-Regimes aufgewachsen. Der Diktator verbot die Bräuche der Basken und sogar ihre Sprache. Sein Ziel war ein uniformes Spanien. Doch die Volksgruppe kämpfte für ihre Autonomie. Und zahlte einen hohen Preis. Viele aus dem Baskenland haben Verwandte oder Bekannte im Gefängnis, sagt Nekane. «Manche wurden verschleppt und sind nie wieder aufgetaucht.»
Nekane ist acht Jahre alt, als ihre Eltern sie erstmals an eine Demonstration mitnehmen. Ein Bürger aus Asteasu war von der halbmilitärischen Guardia Civil gefoltert und ermordet worden. Damals verstand die kleine Nekane «tortura» noch nicht, das spanische Wort für Folter. Viele Jahre später sollte sie dessen Bedeutung am eigenen Leib erfahren.
Verhaftung 1999
1999 wird sie verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt ist die 26-Jährige Stadträtin von Asteasu. Auch nach dem Ende der Diktatur gibt es Repression gegen baskische Aktivisten. Nekane kommt in ein Gefängnis nach Madrid. Man wirft ihr die Unterstützung der Terrororganisation ETA vor, die bis zu ihrer Auflösung 2018 rund 800 Menschen tötete.
Im Polizeikeller wurde Nekane fünf Tage lang gefoltert und vergewaltigt: «Ich kämpfte mit meinem gesamten Willen ums Überleben. Ich wollte meiner Familie den Schmerz ersparen, eine Angehörige zu verlieren.» Sie spricht gelassen, ihre Geschichte hat sie schon oft erzählt. Einzig ihre Hände, die an einem Haargummi zerren, und ihr gesenkter Blick verraten, dass es sie immer noch Kraft kostet, darüber zu sprechen.
Basken mussten viel Gewalt erleben
Zu den Vorwürfen der Guardia Civil sagt sie heute: «Welche Rolle spielt es, dass ich die ETA unterstützt haben soll? Ist das ein Grund, mich zu foltern?» Es schmerzt sie, sich stets für den Widerstandskampf rechtfertigen zu müssen, obwohl die Baskinnen und Basken so viel Gewalt durch den spanischen Staat erfahren hat. «Opfer gab es auf beiden Seiten. Aber während ETA-Opfer offiziell anerkannt sind, hat der Staat nur einen Bruchteil der Tausenden gefolterten und ermordeten Basken anerkannt», sagt Nekane.
Auch sie selbst hat von offiziellen Stellen noch kein Eingeständnis ihrer Folter erhalten. Und das trotz internationalen Drucks: In acht Fällen wurde Spanien bereits vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verstössen gegen die Antifolterkonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt.
2007 zu Freiheitsstrafe verurteilt
2007 erlegt ein spanisches Gericht Nekane in einem Massenprozess eine mehrjährige Freiheitsstrafe auf. Sie flieht. Auf der Flucht bekommt sie ein Baby. Das Kind wird ihr neuer Ankerpunkt.
Ihre Folterer sollen ihr damals gedroht haben, sie so sehr zu verletzen, dass sie keine Kinder mehr bekommen könne. Die Geburt setzt neue Kräfte in ihr frei. «Es war klar, dass ich alles für meine Tochter tun werde.»
Es folgt ein Versteckspiel
Sie schaffen es in die Schweiz. Als Illegale. «Wir waren unsichtbar, lebten am Rand der Gesellschaft.» Ihre Tochter wurde auf dem Spielplatz sozialisiert, gemeinsam lernen sie dort die ersten Worte Deutsch. Sie hat dem Mädchen auch die baskische Sprache beigebracht. «Meine Sprache ist meine Identität. Wenn ich meinem Kind das nicht mitgeben kann – was sonst?»
Jahrelang geht das Versteckspiel gut. Bis zum 6. April 2016. An jenem Tag wird sie in der Schweiz festgenommen. Sie kommt in Auslieferungshaft.
Solidaritätswelle
Es war der Beginn einer Solidaritätswelle. Nekanes Anwälte, ihre Freunde und die Menschenrechtsorganisation Augenauf starten eine Kampagne, um den Druck auf die Behörden zu erhöhen. Plötzlich ist ihr Gesicht auf Plakaten, in Zeitungen und den sozialen Medien zu sehen. Die Aktion nimmt Fahrt auf, verselbständigt sich, ein Bündnis entsteht.
Immer mehr Menschen gehen für Nekane auf die Strasse. Vor allem auf Kundgebungen der Frauenbewegung ist ihr Abbild omnipräsent, fast schon ikonisch. Am feministischen Streiktag 2019 trat sie als Hauptrednerin auf. Im Gefängnis erhält sie wöchentlich Besuch. Auch von Personen, die Nekane noch nie zuvor gesehen hatte.
Kollektive Anstrengungen
Nekane wird mit Briefen überhäuft. Menschen aus der ganzen Schweiz schreiben ihr, sichern ihr Solidarität zu. Auch Unterstützerinnen aus dem Baskenland reisen in die Schweiz. Über das linksalternative Radio Lora, einen Zürcher Lokalsender, werden Grussbotschaften an sie ausgestrahlt. Die kollektive Anstrengung ist das, was Nekane im Gefängnis Kraft verleiht.
Anouk Maria Robinigg (37) vom Free-Nekane-Bündnis ist eine ihrer Unterstützerinnen. «Mich hat ihre Geschichte sehr berührt. Es war ein offensichtlicher Skandal, eine riesige Ungerechtigkeit!»
Dass Nekane als eines von wenigen Folteropfern die Kraft aufbrachte, über ihre Erlebnisse zu sprechen, habe sie nahbar gemacht. Robinigg: «Für uns war klar, sie ist eine von uns. Nekane ist eine Überlebende sexualisierter Gewalt. Ich denke, das hat vor allem viele Frauen betroffen gemacht.»
Der öffentliche Druck zeigte Wirkung
Der Druck zeigt Wirkung. Nach 17 Monaten lässt die spanische Regierung das Auslieferungsgesuch fallen. Nekane ist frei. Doch während dieser Erfolg in der Schweiz gefeiert wird, nennt die spanische Zeitung «El Pais» sie noch immer eine Terroristin. Fünf weitere Jahre soll es dauern, bis ein hohes Gericht Spaniens die Anklage gegen Nekane fallen lässt – und sie in ihre Heimat reisen kann. Zum ersten Mal nach 15 Jahren.
Und doch sagt sie: «Ich bin nicht wirklich frei. Rechtlich vielleicht schon, aber nicht im Herzen. Nicht, solange noch über 200 Baskinnen in spanischen Gefängnissen sitzen und der Folterapparat nicht gestoppt wird.» Eine halbe Stunde später steht Nekane auf dem Zürcher Helvetiaplatz bei der Kundgebung einer Organisation, die gegen sexualisierte Gewalt kämpft. Die Frauen gedenken der Schweizer Mutter aus Siders VS, die Ende Mai von ihrem Sohn getötet wurde.