Am Abend des 13. Oktober 2021 wird Annelies* (85) von einem Kreischen geweckt. Zuerst hält sie es für ein Geräusch aus dem Fernseher. Sie war auf der Couch eingeschlafen. Doch es ist nicht der TV, es klingt anders: «Wie ein Todesschrei!» Annelies geht auf ihren Balkon im ersten Stock, schaut runter und sieht ihre Nachbarin Ayla* (†30). Sie liegt im Gebüsch neben dem Hauseingang, von ihrem Körper sind nur die Beine zu sehen. Neben ihr liegt ihr Ehemann Serdar* (46). Plötzlich springt er auf, rennt los und verschwindet hinter der Hausecke. Ayla bleibt regungslos im Gebüsch liegen. Annelies ist eine der letzten Menschen, die sie lebend sieht.
Ayla stirbt.
Mitten im Bändliquartier in Zürich-Altstetten. Nachbarn werden Zeugen. Der mutmassliche Täter, Aylas Ehemann, stellt sich noch in derselben Nacht schwer verletzt der Stadtpolizei. Er sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Die beiden lebten vor der Tat getrennt. Gegen ihn lief ein Verfahren wegen Bedrohung seiner Ehefrau, am Tag der Tat wurde ein Rayonverbot gegen ihn verhängt, um ihn von ihr fernzuhalten.
Ayla hinterlässt zwei kleine Kinder.
Wie geht das Leben in einem Quartier nach so einer Bluttat weiter? Was löst es in den Menschen aus? Das SonntagsBlick Magazin hat darüber mit vier Frauen gesprochen. Hat sie während Monaten immer wieder getroffen. Annelies, die bereits ihr ganzes Leben im Quartier wohnt und sah, wie Ayla starb. Lara (22), für die es bereits der zweite Femizid in der Nachbarschaft ist. Birgit (58), die seit 21 Jahren im lokalen Gemeindezentrum arbeitet. Und Maura (29), die weder Ayla noch ihre Familie kannte, aber durch ihren Tod zur Aktivistin wird.
Angst vor dem Täter
Annelies wohnt schon ihr ganzes Leben im Bändliquartier im Zürcher Kreis 9, zwischen Werdinsel und Bahnhof Altstetten. Vor über 50 Jahren zog sie in ihre jetzige Wohnung. Seit ihr Mann starb, lebt sie allein. Ein Stockwerk tiefer wohnte Ayla mit ihrer Familie. Obwohl Annelies starke Hüftprobleme hat, geht sie jeden Tag um die Mittagszeit spazieren. Einmal sei sie an der Haustüre gestürzt. Ayla sei sofort da gewesen, um ihr aufzuhelfen.
Die alte Dame sitzt jetzt am antiken Esstisch aus dunklem Holz in ihrem Wohnzimmer. Sie spricht von ihrer friedlichen Kindheit im Quartier. Sie hat sich hier stets wohlgefühlt. Während Annelies erzählt, blickt sie nachdenklich aus dem Wohnzimmerfenster. «Früher war ab hier bis zur Limmat alles Ried. Vis-à-vis vom Haus grasten sogar Schafe.» Dann verändert sich das Viertel. Es wird gebaut, Idylle wird zu günstigem Wohnraum. Das Zürcher Arbeiterviertel wandelt sich zum Multikulti-Quartier. «Zu Beginn war das ungewohnt. Die vielen Ausländer leben anders, sind lauter.» Sie pflegt wenig Kontakt zu ihren Mitmenschen, die Sprachbarriere hindert sie daran. Viele sprechen kein Deutsch. Doch daran gewöhnte sich Annelies. «Die Nachbarn sind ja sehr freundlich und hilfsbereit.»
Nach Aylas Tod fühlt sich Annelies in ihrer Nachbarschaft zum ersten Mal nicht mehr sicher. In den ersten Tagen nach der Tat sperrt sie sich zu Hause ein, die Fenster zu, die Rollläden unten. Der Grund: Einen Tag vor der Tötung sei ihr Serdar im Quartierladen begegnet. Er, mit dem sie in über zehn Jahren nie mehr als ein Grüezi und Ade gewechselt hatte, sei dort auf sie zugekommen. «Ich will die Kinder und die Wohnung», soll er gesagt haben. Dann habe er sich umgedreht und sei verschwunden. Nach der Tat hat Annelies Angst, er könne zurückkehren. Erst als die Polizei ihr am Telefon versichert, der Mann befinde sich in U-Haft, geht sie wieder vor die Tür. Ihre Angst verblasst, genau wie der Blutfleck vor der Haustüre. Nur der Todesschrei, der sie am 13. Oktober aus dem Schlaf schrecken liess, hallt ein Vierteljahr später noch nach.
An einem Mittwochabend, zwei Wochen nach Aylas Tod, versammeln sich am Brunnen vor dem Quartierladen rund 100 Frauen und Kinder. Männer sind nur vereinzelt zu sehen. Vor einem Baum steht ein improvisierter Altar, mit einem Foto von Ayla. Beleuchtet vom Kerzenschein, ist ihr zartes Gesicht zu erkennen. Irgendwann tritt Maura ans Mikrofon. Sie hält die erste Rede an der Trauerfeier, eine weitere Anwohnerin übersetzt auf Türkisch. «Wir müssen als Quartier füreinander da sein», sagt sie. Und: «Greift ein!»
Kampf gegen Femizide
Einige Wochen später sitzt Maura an ihrem Esstisch. Zu ihren Füssen liegt Hündin Joey, ihre ständige Begleiterin. «Ich denke oft an Ayla. Ihr Tod ist erst wenige Wochen her und trotzdem scheint es, als sei nichts passiert», sagt sie. Auch Aylas Bild, das nach der Trauerfeier noch einige Zeit auf dem Altar am Brunnen stand, sei mittlerweile verschwunden. Trennung, eine Anzeige bei der Polizei und ein Rayonverbot – Ayla hatte mit allen Mitteln gegen ihren Ehemann gekämpft. Doch es war nicht genug. Hätte eine Festnahme die Tat verhindern können? Hätten die Nachbarn etwas ausrichten können? Mauras Stimme zittert vor Wut. «Wir können Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, zukünftig nicht mehr allein lassen!»
Maura erfuhr schon früher sexuelle und körperliche Gewalt – persönlich und im engeren Umfeld. «Erst Aylas Tod hat mich so richtig wachgerüttelt.» Auch wenn sie weder die Verstorbene noch ihre Familie kannte. Dennoch, nur wenige Häuserblocks entfernt starb eine Frau im gleichen Alter, auf schrecklichste Weise. Ein Schock, der dann in Fassungslosigkeit überging. «Ich konnte nicht nachvollziehen, dass es einfach so weitergeht. Warum gibt es im Quartier keinen Aufschrei?» Maura macht bei einem Protest der Organisation Ni-una-menos Zürich mit, die gegen Femizide kämpft. Als Femizid bezeichnet man die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Mord im Namen der Ehre, Mord aufgrund falscher Besitzansprüche, Mord, weil eine Trennung nicht akzeptiert werden kann. Dagegen kämpft Maura. Sie hat sich Ni-una-menos angeschlossen.
Lara (22) steht in ihrer Küche und kocht Teewasser. Ihre drei Katzen streichen schnurrend um ihre Beine. Eine von ihnen springt auf das Fensterbrett. Lara nimmt sie herunter, schaut hinaus. Von dort aus kann sie direkt auf den Tatort schauen.
An der gleichen Stelle steht sie auch am Abend des 13. Oktober und bangt um das Leben des Menschen, dessen Körper die Rettungssanitäter über 30 Minuten wiederzubeleben versuchen. Von der Tat selber bekommt sie nichts mit.
Die ersten Tage nach Aylas Tod verlässt Lara das Haus nicht. Sie fürchtet sich davor, am Tatort vorbeizulaufen. «Für mich ging es um Respekt. Das ist doch der Gehweg, dachte ich. Da sollte niemand einfach so sterben. Ich konnte nicht akzeptieren, dass alles normal weitergeht.» Mittlerweile geht sie dort wieder entlang. Jedoch nie, ohne dabei an Ayla zu denken.
«Eine sich emanzipierende Frau»
An der kleinen Gedenkstätte vor dem Haus liegen Bilder, bemalte Steine, eine Kette. Und ein Brief. «Liebe Mami», steht da, «ich hab dich sehr vermisst. Du bist ein sehr tolles Mami. Du bist mega schön.» Ayla sei eine der wenigen Mütter gewesen, die sich um die spielenden Nachbarskinder der umliegenden Häuser kümmerten, sagt Lara. «Einmal brachte sie eine ganze Box mit Sandwiches für alle Kinder raus.» Über die Kinder, mit denen Lara ab und zu spielte, kamen auch die beiden Frauen in Kontakt. «Ayla hatte eine sehr sympathische Ausstrahlung. Auf mich wirkte sie wie eine moderne, sich emanzipierende Frau, die gerne den Austausch gesucht hat.» Als Lara irgendwann von der Trennung erfuhr, freute sie sich für Ayla. «Sie wirkte befreit.» Die beiden als Paar habe Lara sowieso nie verstanden. Ayla, die aufgeschlossene und hübsche junge Frau. Und Serdar, deutlich älter, grimmig und desinteressiert.
Aylas Tod ist bereits der zweite Femizid, der unmittelbar in Laras Nachbarschaft passierte. Ihre Kindheit verbrachte sie in Zürich-Höngg, auf der anderen Flussseite. Als sie zehn Jahre alt war, tötete ihr Nachbar seine 16-jährige Tochter mit einer Axt. Ein Erlebnis, das Lara geprägt hat. «Mein Credo ist: Lieber einmal mehr Hilfe holen als zu wenig.» Seit sie vor gut zwei Jahren gegenüber von Annelies und Ayla ins Bändliquartier gezogen ist, habe sie bereits vier bis fünf Mal die Polizei gerufen. Einmal seien aus der Wohnung eines Paares in ihrem Haus stundenlang laute Geräusche gekommen. «Schreie und dumpfe Schläge, so als ob jemand oder etwas gegen die Wand fliegt.» Als Lara ihre Wohnung verliess, um nach dem Rechten zu sehen, sei sie nicht die Einzige gewesen. Das ganze Haus hatte mitbekommen, was los war, doch niemand schritt ein. «Ich vermute, dass viele wegschauen, weil sie kulturell an mehr häusliche Gewalt gewöhnt sind und daran, dass das Privatsache ist», sagt Lara.
Birgit traut sich bis heute nicht zu der Stelle, an der Ayla gestorben ist. «Sprachlos. Schockiert. Mitgenommen», so beschreibt sie ihre Reaktion auf ihren Tod. In den 21 Jahren, in denen sie im Gemeindezentrum in der soziokulturellen Quartierarbeit tätig ist, ist nichts Vergleichbares geschehen. Sie vermutete zwar stets, dass häusliche Gewalt im Quartier vorkommt. Jedoch sei es schwierig, etwas dagegen zu tun. «Viele sprechen nicht gut Deutsch. Die Hemmung, Hilfe zu holen, ist da grösser. Vielleicht ist es auch Unwissenheit.» Auch rein kulturell seien viele der Communitys im Quartier von einer «Nicht-Einmischen-Mentalität» geprägt. Auch Ayla sprach nie von Gewalt in ihrer Beziehung. Nur ihren Trennungswunsch äusserte sie Birgit gegenüber. Kennengelernt haben sich die beiden im Café des Gemeindezentrums.
Dort bereitet Birgit jetzt Tee zu, bevor sie in einem separaten Raum an einem Tisch Platz nimmt. Sie wärmt ihre Hände an der Tasse, es ist ein kalter Novembertag. Beim Durchqueren des Raumes grüsst sie die spielenden Kinder und ihre Mütter namentlich. Ayla kam hin und wieder mit Serdar und ihren Kindern zum Spielen vorbei. Es sei komisch gewesen, dass ihr Mann immer dabei war, dann aber nur still in einer Ecke sass. Normalerweise würden die Frauen eher allein mit ihren Kindern kommen. «Es machte den Eindruck, als ob Ayla in ihrem Alltag gefangen war. Als ob ihr Mann sie kontrollierte.» Manchmal sei sie ihr einsam vorgekommen. «Ihre Familie war in der Türkei. Ob sie hier Freunde hatte, weiss ich nicht.» Die Angebote im Gemeindezentrum nahm Ayla freudig an. Sie machte bei verschiedenen Projekten mit. 2019 nahm sie als einzige Frau aus dem Quartier gemeinsam mit Birgit, ihren Kolleginnen und ihrer kleinen Tochter am grossen Frauenstreik in Zürich teil. Davon erzählt Birgit den Gästen auf der Trauerfeier. Birgit möchte, dass die Menschen Ayla in Erinnerung behalten. «Mir ist wichtig, dass etwas bleibt.»
Doch die meisten Menschen im Quartier möchten vergessen. Abschliessen. Viele Anfragen des SonntagsBlick Magazins wurden mit diesen Worten abgelehnt. Das ist ein Weg, mit Aylas gewaltsamem Tod umzugehen. Diese vier Frauen entscheiden sich fürs Reden. Maura wird Aktivistin, Lara hält weiter die Augen offen, Birgit will an Ayla erinnern und Annelies gedenkt im Stillen.
*Name geändert