Hat uns der Bundesrat nicht die ganze Wahrheit gesagt? Nachdem sie sich zuerst geziert hatte, betont die Regierung mittlerweile bei jeder Gelegenheit, dass sie die EU-Sanktionen gegen Russland «vollständig» übernommen habe.
Das soll aber nur bedingt richtig sein. Denn im Vergleich zur EU fehlten auf der Schweizer Liste insgesamt 27 russische und ukrainische Staatsbürger, drei staatliche Behörden sowie die berüchtigte Söldnertruppe «Gruppe Wagner». Das berichtete das Onlinemagazin «Republik» am Mittwoch – es hatte die Sanktionsliste der EU angefordert und mit der Schweizer Liste verglichen.
Von der EU sanktioniert – von der Schweiz unbehelligt
Die EU-Liste beinhaltet bekannte Figuren, grösstenteils mutmasslich Schwerkriminelle. Der prominenteste Name ist jener des prorussischen Ex-Präsidenten der Ukraine, Wiktor Janukowitsch (71). Er war 2014 nach wochenlangen Protesten der Bevölkerung in Kiew nach Russland geflohen. Damit hatte er sich einem Haftbefehl entzogen wegen des Verdachts, einen Massenmord an Zivilisten in Auftrag gegeben zu haben. Bei den Protesten waren mehr als hundert Menschen ums Leben gekommen. Fünf Jahre später hatte ihn ein ukrainisches Gericht in Abwesenheit zu 13 Jahren Haft wegen Hochverrats verurteilt.
Seit März 2019 steht Janukowitsch mit weiteren prominenten Ukrainern auf der thematischen Sanktionsliste Ukraine der EU. Auf der Schweizer Sanktionsliste fehlt er hingegen, so die «Republik». Allerdings: Bundesrat Guy Parmelin (62) wies am Mittwoch darauf hin, dass Janukowitsch auch von der Schweiz sanktioniert werde – er stehe seit Jahren auf einer Liste des Aussendepartements EDA.
Der Fall der Söldner-Gruppe «Wagner»
Ebenso stellt sich der Fall der berüchtigten Gruppe Wagner dar. Dieser werden unter anderem schwere Menschenrechtsverletzungen in Syrien angelastet. Sie soll zudem im Auftrag von Wladimir Putin (69) versucht haben, den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44) zu ermorden.
Auf der Schweizer Sanktionsliste fehlt die Gruppe ebenso wie der Gründer der Gruppe, Dmitri Utkin (51). Allerdings: Hitler-Fan Utkin steht seit dem 14. Januar diesen Jahres auf einer älteren Liste. Diese wurde nach der Annektion der Krim 2014 erstellt und sollte dafür sorgen, dass internationale Sanktionen nicht über die Schweiz umgangen werden konnten, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) auf Blick-Anfrage sagt. «Somit unterliegt Herr Utkin der Vermögenssperre und den Reiserestriktionen», so ein Sprecher. Auch der Financier der Gruppe stände auf einer solchen Liste, wie Parmelin sagt.
Gemäss «Republik» fehlen auf der Schweizer Liste zudem die Spione, die Oppositionspolitiker Alexei Nawalny (45) vergiftet haben sollen. Dasselbe gelte für jene Agenten, die gegen den abtrünnigen russischen Ex-Geheimdienstler Sergei Skripal (70) eingesetzt wurden. Die Tatverdächtigen sollen sich im Vorfeld mehrfach in der Schweiz aufgehalten haben. Nicht aufgelistet sein sollen zudem sechs Hacker, die 2015 den Deutschen Bundestag in Berlin angriffen und 2018 versuchten, das Wifi-Netzwerk der in Den Haag ansässigen Organisation für das Verbot chemischer Waffen zu infiltrieren. Ob diese allenfalls auf anderen Listen stehen, konnte Blick am Mittwoch nicht verifizieren.
Bundesbehörden sehen sich nicht verpflichtet
Am Wirbel, den die «Republik» verursacht hat, sind die Bundesbehörden nicht ganz unschuldig. Denn die «Republik» hat das Seco mit ihren Recherchen konfrontiert. Trotzdem habe dieses mehrere Tage geschwiegen. Und auch dann hiess es lediglich: Der Bundesrat habe «zur Kenntnis genommen, dass die EU unter gewissen thematischen Sanktionsregimes russische Staatsbürger sanktioniert hat». Die Schweiz sei weder rechtlich noch politisch verpflichtet, die Sanktionen der EU zu übernehmen. «Die Beurteilung erfolgt von Fall zu Fall aufgrund verschiedener aussenpolitischer, aussenwirtschaftspolitischer und rechtlicher Kriterien.»
Fraglich bleibt, warum das Seco die Journalisten der «Republik» beispielsweise in den Fällen Janukowitsch und Utkin nicht auf die Sanktionierung hingewiesen hat. Zu den Recherchen der «Republik» sagte der emeritierte Strafrechtsexperte Mark Pieth (69): «Es ist ausserordentlich problematisch, wie sich die Behörden die Verantwortung zuschieben.» Das ergebe «ein peinliches Bild der Inkompetenz». Vielleicht ist es nicht ganz so übel. Aber in Sachen Kommunikation haben die Bundesbehörden – insbesondere das Seco – definitiv Nachholbedarf. (dba/sf)