Am Donnerstag feiert das Bundeshaus! In Bern den neuen Bundesrat Albert Rösti (55), im Jura die neue Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (58) und in Freiburg den neuen Bundespräsidenten Alain Berset (50).
Und wie man in der Wandelhalle hört, ist der Andrang besonders bei der Wahlfeier für Baume-Schneider gross. Selbst Berner wollen lieber mit ihr festen als mit Rösti, und böse Zungen berichten gar, dass die SP händeringend Leute suchte, die sich solidarisch zeigen und – statt zu Baume-Schneider – mit Berset nach Freiburg fahren.
Was nicht nur an der lebenslustigen neuen SP-Bundesrätin liegt, sondern auch an ihrer Heimat. Rund um die Bundesratswahl hat die Schweiz ihre Faszination für den jüngsten Kanton entdeckt: Es fiel kein böses Wort, kein negatives Klischee wurde aus der Mottenkiste geholt.
Doch warum ist der Jura allen (ausser vielleicht den Bernern) so sympathisch? Blick hat fünf Experten gebeten, diese Frage zu beantworten:
- den Waadtländer Ethnologen Pierre Centlivres, Honorarprofessor an der Universität Neuenburg, der sich mit regionalen Identitäten befasst
- den Karikaturisten Patrick Chappatte, der seinen Heimatkanton gern skizziert
- den Journalisten Arnaud Bédat, der in der Ajoie lebt
- den Waadtländer Komiker und Schauspieler Vincent Kucholl, der in der RTS-Sendung «52 minutes» die Jurassierinnen und Jurassier imitiert
- den ehemaligen SP-Nationalrat Andreas Gross, der heute in Saint-Ursanne JU lebt
Ihre Erkenntnisse lassen sich in sieben Punkten zusammenfassen.
Weil die Jurassier sympathisch und frech sind
«In dieser tödlich langweiligen, besorgten Schweiz hat man diesen Landstrich ein wenig vergessen, wo die Leute ganz objektiv nett sind, wo es eine gewisse Frische und Lust gibt», so Chappatte. «So wie Elisabeth Baume-Schneider: Sie hatte Lust auf eine Kandidatur und liess sich auch von allen Prognosen nicht abhalten. Und sie hat mit ihrer Sympathie überzeugt», so der bekannte Karikaturist mit jurassischen Wurzeln.
«Sie sah eine Gelegenheit, traf eine dreiste Entscheidung und ging aufs Ganze: Das ist die jurassische Mentalität», sagt auch Journalist Bédat. Die sei zudem mit einer gewissen Lebensfreude gespickt: «Hier grüsst jeder jeden, auch wenn er ihn nicht kennt.»
Die Liebe zum Jura sei allerdings relativ neu, ergänzt er: «Lange Zeit wurden wir nicht wirklich beachtet, man hielt uns für Hinterwäldler, sprach von einem ‹Land der Wölfe›.»
Mehr zu Elisabeth Baume-Schneider
Die Sympathie für den Jura hänge auch mit dem dortigen Umgang miteinander zusammen, sagt Bédat. Freundschaft sei heilig, gleichzeitig sage man einander, was man denke. «Das kann zu heftigen Auseinandersetzungen führen! Aber alles lässt sich im Bistro regeln, wenn man Intelligenz und guten Willen beweist. Es gibt keinen Groll, wir wollen in Harmonie leben!»
Der Zürcher Andreas Gross, der vor fast 23 Jahren nach Saint-Ursanne JU gezogen ist, sieht das ähnlich. Allerdings werde die sympathische Seite der Jurassierinnen und Jurassier ein wenig überschätzt. Man sei dort auch nicht offener als der Durchschnittsschweizer. «Die Fröhlichkeit, das Feiern, sind immer etwas nach innen gerichtet. Es gibt eine Tendenz, den Fremden, der hereinplatzt, verdächtig zu finden.»
Weil der Kanton harmlos ist
Der Ethnologe Pierre Centlivres, der in Neuenburg lebt, sagt: «Der Jura ist eine Randregion. Daher stellt er keine wirtschaftliche Bedrohung für die mächtigen Kantone dar, er ist keine Konkurrenz. Er hat also etwas Beruhigendes – und das macht es schwierig, seine Bevölkerung als arrogant darzustellen.»
Patrick Chappatte stimmt zu: «Die Schweiz macht sich nicht allzu viele Gedanken wegen des Juras, weil er nicht auf der Achse Genf-Zürich liegt. Die Leute reisen nicht oft dorthin. Mit der Wahl von Elisabeth Baume-Schneider hat man nun seine geistreiche und sympathische Seite wiederentdeckt. Die Jurassierinnen und Jurassier mag man, weil man sie nicht kennt. Aber man liebt sie erst, wenn man sie kennt.»
Weil Jurassier zu feiern wissen
«Der Jura hat auch darum ein sympathisches Image, weil er ein Kanton mit Sinn für Feste ist», sagt Ethnologe Centlivres. Man denke an den Martinstag, der am 11. November in der Ajoie gefeiert wird, wo die Gäste bis tief in die Nacht hinein feiern und essen, von der Blutwurst bis zum Totché, diesem traditionellen Kuchen aus Sauerteig und Sauerrahm.
Auch Patrick Chappatte nennt den Jura «ein kleines, fröhliches Land, in dem man in rauchigen Tavernen die Welt neu erfindet». Wie lässt sich das erklären? «Der ländliche Charakter führt zu einer Lebensart, die gleichzeitig gutmütig, authentisch und gesellig ist», meint Komiker Vincent Kucholl.
Für Arnaud Bédat liegen die Gründe dafür in der Geschichte: «Die Tatsache, dass wir bis 1815 Franzosen waren, unterscheidet uns vom Rest der Schweiz. Wir haben das Beste von Frankreich geerbt: die Kultur, die Lust an Wortgefechten, das Lachen und natürlich den heiligen Apéro.»
Weil Jurassier wie Asterix sind
Jurassier sind Rebellen. «Der Jura hat sich von seinem mächtigen Heimatkanton Bern losgerissen, der immerhin die Bundeshauptstadt beherbergt», erinnert Pierre Centlivres. Viele Schweizer könnten sich mit diesem Widerstand des Kleinen gegen den Grossen identifizieren, mit dieser «Asterix-der-Gallier-Attitüde».
Als Folge dieses Kampfes um Autonomie seien die Jurassierinnen und Jurassier aber auch sehr politisch, ergänzt Chappatte: «Politik fliesst in ihren Adern wie der Pflaumenschnaps Damassine!» Er habe das bemerkt, als er im Rahmen einer Ausstellung über die Todesstrafe eine Debatte organisiert habe – der Saal sei rappelvoll gewesen.
Weil er nicht das Wallis ist
Pierre Centlivres, ehemaliger Direktor des Ethnologischen Instituts der Universität Neuenburg, hat noch einen weiteren Grund parat: «Der Jura hat wunderschöne Landschaften, ist aber kein Tourismusmonster wie das Wallis.» Das Wallis wecke Neid bei den Westschweizer Nachbarkantonen, weil es finanziell von der Natur, den Alpen profitiere.
Dem Jura hingegen fehle ein Tourismus-Juwel, sagt Komiker Kucholl. Er sei daher auch von der Geschäftigkeit verschont geblieben und habe keinen Anziehungspunkt, der zum Prahlen verleite. Im Klartext: In den Freibergen oder in Delsberg fliesse nicht jeden Winter Geld. «Der Jura ist exotischer als das Wallis, weil er weniger bekannt ist.»
Weil die Separatisten still sind
Katalonien, Korsika, Québec, Schottland: In Spanien, Frankreich, Kanada und Grossbritannien sind diese Regionen wegen ihrer separatistischen Bewegungen oft verhasst. Die Jurassier haben – ausser in Bern vielleicht – ein gutes Image. Warum? Der Ethnologe Centlivres sagt: «Weil der Jura einfach nicht mehr diese Art von Forderungen stellt.» Man sehe an der Wahl von Elisabeth Baume-Schneider, dass der Kanton durchaus bereit sei, auf der nationalen Bühne zu spielen.
Doch auch als die jurassische Separatismus-Bewegung aktiv war, zog sie nicht den Zorn der Restschweiz auf sich. «In der Deutschschweiz gab es vielleicht eine gewisse Antipathie aus Solidarität mit Bern», erinnert sich Chappatte. In der Romandie seien die Aktionen der Béliers hingegen belächelt worden.
Weil seine Landschaft unberührt und sein Geist frei ist
Der Jura sei attraktiv für Menschen, «die die Natur lieben, Geld hassen und einen Freiraum suchen, sowohl in geografischer als auch in politischer Hinsicht», sagt Zuzüger Andreas Gross. Der kleine Jura sei so vergleichbar mit den Weiten des Yukon in Kanada. «Für alle jene, die eine Alternative zum Mainstream suchen, ist er ein Eldorado.»