Es war ein europapolitischer Scherbenhaufen. Vor über 30 Jahren sagte die Schweiz «Nein» zu einem Beitritt in den europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Der Bundesrat hatte intensiv für ein «Ja» geworben, dabei sogar ein EU-Beitrittsgesuch eingereicht. Doch die Gegner um SVP-Vordenker Christoph Blocher (83) siegten. Es war ausgerechnet SVP-Bundesrat Adolf Ogi (81) der in seinem darauffolgenden Präsidialjahr die Scherben kitten musste.
Just in diesem Jahr, als der Bundesrat um Aussenminister Ignazio Cassis (62) mit der Europäischen Union über eine Neuauflage des Rahmenabkommens diskutieren wird, werden bislang unveröffentlichte Akten von vor 30 Jahren publik, die zeigen, wie Ogi und seine Bundesratskollegen die Grundlagen für die bilateralen Verträge legten.
Kohl in der Schweiz
«Die Akten zeigen, dass der Bundesrat als Reaktion auf die Schockstarre nach dem EWR-Nein eine beispiellose Besuchsoffensive lancierte, dank der gegen Ende Jahr bilaterale sektorielle Verhandlungen mit der Europäischen Union aufgenommen werden konnten», sagt Historiker Sacha Zala (55). Er hat mit seinem Team die rund 1700 Akten ausgewertet, über denen bislang eine Schutzfrist von 30 Jahren lag.
Selten begrüsste der Bundesrat in einem Jahr so viele Staats- und Regierungschef in der Schweiz. Im pompösen Landgut Lohn, dem Gästehaus des Bundesrates in Kehrsatz bei Bern, schüttelten Ogi, Flavio Cotti (1939 - 2020) und Kaspar Villiger (82) unter anderem dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl (1930–2017) die Hände.
Handschriftliche Notizen von Ogi zeigen, was im vertraulichen Gespräch ein Thema war: So soll Kohl gesagt haben, der Schweizer Trotz nütze auf lange Zeit nicht. Die Schweiz werde schon bald einen Vollbeitritt suchen, wird der deutsche Kanzler später einem Journalisten verraten.
Zuvor gab es bereits Treffen am WEF mit den Premierministern der Niederlande oder Portugal, im April mit dem britischen Premierminister John Major (80). Immer wieder warben Ogi und seine Kollegen für die Schweizer Position.
«Ich schämte mich wie ein Hund»
Ogi selbst reiste unter anderem nach Frankreich, wo er überraschend auf den französischen Präsidenten François Mitterrand (1916–1996) traf. «Wir fuhren dann mit dem Volvo vor, samt Gardeempfang. Ich schämte mich wie ein Hund und befürchtete, das gebe jetzt bestenfalls eine fünfminütige Audienz», sagt Ogi gegenüber der «NZZ». «Doch mit Mitterrand, diesem wandelnden Monument, verstand ich mich blendend.» So entstand die Einladung zum Gegenbesuch, den Mitterrand im Dezember 1993 wahrnahm und nach Kandersteg reiste.
Auslandsbesuche von amtierenden Bundespräsidenten waren damals nicht üblich, doch das Aussendepartement änderte die Regeln. «Ich war ein Tabubrecher. Meine Vorgänger sind wie die Hüttenwarte in den SAC-Hütten zu Hause geblieben», sagt Ogi gegenüber «NZZ». Er nahm unter anderen an der Beerdigung des belgischen Königs in Brüssel teil. «Mitterrand nahm mich an die Hand und stellte mich überall vor: ‹Je vous présente le Président de la Suisse!› So etwas öffnet Türen.»
Ähnliche Probleme noch heute
Im November 1993 zeigten sich dann die Erfolge der Schweizer Charmeoffensive. Der Rat der europäischen Aussenminister signalisiert, Verhandlungen über sektorale, bilaterale Abkommen seien möglich. Zum Glück: Denn ein EU-Beitritt oder eine Neuauflage der EWR-Abstimmung, über die ebenfalls nachgedacht worden war, wären innenpolitisch wohl chancenlos gewesen.
Aussenminister Cotti relativierte den Erfolg: «Gute Anwälte, wenn nicht sogar Freunde, haben sich für die Schweiz eingesetzt». Denn die Staaten waren geteilter Meinung. So wollten zum Beispiel Spanien und Portugal Erleichterungen beim Familiennachzug, weil viele ihrer Landsleute in der Schweiz arbeiteten.
Die Verhandlungen über die bilateralen Verträge gingen erst richtig los. Und auch wenn die Schweiz diese mittlerweile unterschrieben hat, erinnern die Streitpunkte teilweise auch jene Probleme, die Ignazio Cassis und der heutige Bundesrat zu lösen haben. (bro/SDA)