Der EU-Poker geht in eine neue Runde. Und sofort werden vielfach wieder die alten Positionen bezogen. Von links kommen etwa Bedenken in puncto Lohnschutz. Gewerkschaftsboss und SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard (55) verlangt im Blick-Interview bereits Nachbesserungen.
Auch die Rechte rasselt schon mit den Säbeln. Die SVP beklagt ein «vergiftetes Weihnachtsgeschenk». Und die Gruppe Kompass/Europa um Alfred Gantner (55) arbeitet bereits an einer Volksinitiative. Ihr Volksbegehren soll fremde Richter und eine dynamische Rechtsübernahme verhindern.
In der Bevölkerung herrscht «Aufbruchstimmung»
Dabei zeigt sich: Das europapolitische Klima ist so gut wie lange nicht mehr. Ganze 68 Prozent der Bevölkerung sehen im bilateralen Weg ausschliesslich oder eher Vorteile, wie eine repräsentative Umfrage zeigt, die das Meinungsforschungsinstitut GFS Bern im Auftrag verschiedener Wirtschaftsverbände durchgeführt hat. Das sind ganze zehn Prozent mehr als noch im vergangenen Frühjahr und ein Höchstwert seit 2015.
«Es herrscht wirklich Aufbruchstimmung», sagt Studienleiter Urs Bieri. Angesichts der internationalen Herausforderungen wünsche man sich auch in der Schweiz wieder mehr Sicherheit und suche die Nähe zu den Werten, die Europa verkörpere. «Ausserdem ruft die angespannte Weltwirtschaftslage in Erinnerung, dass die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union den Wohlstand der Schweiz befördert hat.»
Hälfte der SVP-Basis ist für Verhandlungen
Das führt dazu, dass auch die Weiterentwicklung des bilateralen Wegs befürwortet wird. 68 Prozent der über 1000 befragten Stimmberechtigten wollen, dass der Bundesrat Verhandlungen über ein neues Paket von Verträgen führt, so wie es die Landesregierung am Freitag verabschiedet hat. Selbst 49 Prozent der SVP-Anhänger unterstützen Verhandlungen über die sogenannten Bilateralen III. Dabei stemmt sich die Partei seit Jahren gegen eine weitere «Unterwerfung» unter Brüssel.
Damit politisiert die Volkspartei an der Bevölkerung vorbei, wie die Umfrage zeigt, die in der ersten Novemberhälfte durchgeführt wurde. Selbst die «fremden Richter» werden befürwortet: Damit, dass ein Schiedsgericht Streitfragen klären soll und der Europäische Gerichtshof dabei das EU-Recht auslegen soll, sind ganze 66 Prozent einverstanden. Selbst, dass die Schweiz den Zugang zu Sozialleistungen für EU-Bürger teilweise erleichtern soll, geht für eine knappe Hälfte in Ordnung.
Wohlstand versus Zuwanderung
Den Schweizerinnen und Schweizern ist durchaus bewusst, dass die Eidgenossenschaft im EU-Poker etwas geben muss. Das müssen auch die Gewerkschaften erfahren: 83 Prozent sprechen sich für eine Anpassung der flankierenden Massnahmen aus, solange die Schweizer Löhne nicht unter Druck kommen.
Die knapp über 1000 befragten Stimmberechtigten machen vor allem wirtschaftliche Gründe für ihre Haltung geltend: Für 85 Prozent ist entscheidend, den Zugang zum wichtigsten Exportmarkt der Schweiz zu sichern. 78 Prozent meinen, dass die (derzeit auf Eis gelegte) Teilnahme an EU-Forschungsprogrammen dazu beiträgt, dass die Schweiz zu den innovativsten Ländern gehört. Und ganze 83 Prozent sind der Meinung, dass die Schweiz so zu dringend benötigten Fachkräften kommt.
Allerdings ist die Zuwanderung, die mit der Personenfreizügigkeit einhergeht, auch verantwortlich für die drei Hauptargumente gegen die Bilateralen. Insbesondere die Belastung der Sozialwerke (Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe und AHV) und die steigenden Immobilienpreise und Mieten stimmen die Bevölkerung skeptisch. Ganze 52 Prozent stören sich daran, dass die Schweiz aufgrund der Personenfreizügigkeit keine Kontrolle über die Einwanderung mehr hat.
Erleichterte Wirtschaft
Die Wirtschaftsverbände sind dennoch erfreut von den Ergebnissen: «Jetzt haben wir es schwarz auf weiss: Die Bilateralen III geniessen grossen Rückhalt», sagt etwa Stefan Brupbacher, Direktor des Verbands Swissmem. Monika Rühl, Vorsitzende der Geschäftsleitung von Economiesuisse, freut besonders, dass es in allen politischen Lagern eine Mehrheit für ein neues Paket gibt. «Das stimmt mit Blick nach vorne zuversichtlich.»
Studienleiter Bieri warnt aber vor überzogenen Erwartungen. In den nächsten Monaten werde sich die Diskussion über die Europapolitik intensivieren. «Und damit rücken die Schwachstellen des bilateralen Wegs in den Vordergrund: die flankierenden Massnahmen, die Zuwanderung, der Europäische Gerichtshof und nicht zuletzt das Gefühl, dass die EU zu mächtig ist und der Schweiz zu viele Kompromisse abverlangt.»
Das ändere aber nichts am grundsätzlichen Wohlwollen, das die Bevölkerung den Bilateralen III entgegenbringe. «Die Menschen wissen, dass der Wohlstand der Schweiz gefährdet ist, wenn man die bilateralen Verträge erodieren lässt. Zum Schluss wird es darauf ankommen, was man den bekannten Schwachstellen einer weiteren Annäherung entgegensetzen kann.»