Die Brasserie de l'Hôtel-de-Ville in Genf vibriert, als klar wird, dass Mauro Poggia (64) vom Mouvement Citoyens Genevois (MCG) heute Rot-Grün zünftig in die Parade fahren wird. Es ist Sonntag, kurz nach 13 Uhr, das Resultat noch nicht amtlich, aber klar ist bereits: Poggia wird im zweiten Wahlgang der Ständeratswahlen im Kanton Genf das mit Abstand beste Ergebnis einfahren. Am Schluss holt er 55'317 Stimmen.
Zu diesem Zeitpunkt glaubt Lisa Mazzone (35) bereits nicht mehr an ein Wunder. Noch bevor das Schlussresultat da ist, spricht die bisherige Ständerätin der Grünen ins Mikrofon des lokalen Fernsehsenders Léman Bleu: «Es war mir eine Ehre, Genf vertreten zu dürfen. Ich bedaure das Resultat, damit geht ein Lebensabschnitt zu Ende.»
Mazzone zieht sich aus Politik zurück
Und tatsächlich: Kurze Zeit später wird ihre erste politische Niederlage Realität. Mazzone erreicht mit 45'300 Stimmen nur den dritten Platz. Besonders bitter für die Genfer Grünen: Sie verlieren damit ihren Sitz in der kleinen Kammer. Mazzone vermag ihre Tränen nicht zu verbergen, als sie in der Rue de l'Hôtel-de-Ville ankommt.
Mazzone spricht gleich Klartext. Sagt in einer ersten Reaktion, dass sie sich nun aus der Politik zurückziehen will: «Ich werde meine Überzeugungen anderswo, auf anderem Wege, weiterleben lassen.»
Und weiter: «Wir werden nun von zwei 64-jährigen Männern repräsentiert. Das ist eine Entscheidung von Genf, die ich nur bedauern kann.» Schliesslich erinnerte Mazzone daran, dass sie im Falle ihrer Wiederwahl den Ständerat präsidiert hätte: «Das ist eine verpasste Gelegenheit für Genf.»
Poggia: «Wir sind dort, wo die Lösung liegt»
Der andere 64-Jährige, das ist der Sozialdemokrat Carlo Sommaruga. Er landete mit 46'423 Stimmen auf dem zweiten Platz und sicherte sich damit die Wiederwahl ins Stöckli. Poggias Mitbewerberin, SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz (44), lag mit 40'371 Stimmen auf dem vierten Platz.
Dass Poggia die rot-grüne Genfer Vorherrschaft im Ständerat nach 16 Jahren beenden könnte, hat sich bereits im ersten Wahlgang abgezeichnet. Schon da erreicht er den ersten Platz. Die Anti-Establishment-Partei um Poggia geniesst in Genf grosse Popularität – auch, weil sie sowohl konservative wie linke Standpunkte vertritt.
Sein Resultat zeige, dass das MCG weder links noch rechts stehe, sagt Poggia gestern. «Wir sind dort, wo die Lösung liegt. Damit erreicht die Bewegung auch Menschen, die normalerweise nicht wählen gehen.»
Poggia war von 2011 bis 2013 bereit einmal für zwei Jahre als Nationalrat in Bern. Damals noch – ganz Anti-Establishment – ohne Fraktion im Rücken. Eine solche ist aber wichtig, um tatsächlich politisch etwas bewegen zu können. Jetzt will er sich einer anschliessen. Welcher, ist noch offen. «Derzeit laufen Gespräche der Mitte, der SVP und der FDP», sagte er gestern im Gespräch mit Blick.
FDP-Broulis neu für den Kanton Waadt in Bern
In den drei anderen Kantonen waren die Ausgangslagen deutlich weniger spannend. Im Kanton Waadt holte der FDP-Politiker Pascal Broulis (58) den zweiten Ständeratssitz. Mit 89'058 Stimmen setzte er sich klar gegen den Grünen Raphaël Mahaim (39) durch, dieser erhielt 74'648 Stimmen.
Broulis wird damit erstmals in Bern vertreten sein. Zuvor hatte er die Politik im Kanton Waadt geprägt. Als Finanzminister sanierte er die Kantonsfinanzen. Gemeinsam mit Pierre-Yves Maillard (55) von der SP zimmerte er den «dynamischen Waadtländer Kompromiss», der auf ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaft und Soziales achtet. Maillard war bereits in der ersten Runde in den Ständerat gewählt worden.
Gapany in Freiburg haarscharf wiedergewählt
Im Kanton Freiburg schaffte Mitte-Frau Isabelle Chassot (58) ihre Wiederwahl im zweiten Wahlgang der Ständeratswahlen mühelos. Sie galt als grosse Favoritin und erhielt 38'161 Stimmen.
Zur Zitterpartie wurde der zweite Wahlgang hingegen für Johanna Gapany (35) von der FDP. Sie wurde – mit 30'538 Stimmen – nur haarscharf wieder im Amt bestätigt. Ihrer Verfolgerin, SP-Kandidatin Alizée Rey (36) gelang gestern beinahe die Überraschung. Sie holte 29'624 Stimmen und verpasste damit die Wahl um nur rund 900 Stimmen.
Mitte verteidigt Vorherrschaft im Kanton Wallis
Im Wallis wurden die bisherigen Amtsinhaber Beat Rieder (60) mit 56'306 Stimmen und Marianne Maret (65) 54'273 Stimmen klar wiedergewählt. Die beiden Mitte-Politiker distanzierten den FDP-Herausforderer Philippe Nantermod mit 29'143 deutlich.
Kommenden Sonntag, 19. November, kommt es in den letzten Kantonen (Aargau, Schaffhausen, Solothurn, Tessin und Zürich) zu den zweiten Ständerats-Wahlgängen – und damit zum Showdown um die letzten Sitze im Stöckli.
Die Schweiz hat ein neues Parlament
Mit den Resultaten in Zürich sind auch sämtliche Ständeratssitze besetzt. Die Schweiz hat ein neues Parlament. Nachdem die SVP vor einem Monat im Nationalrat zulegen konnte, zogen sie in den zweiten Wahlgängen am heutigen Nachmittag mehrere Schlappen ein. Christian Imark in Solothurn, Benjamin Giezendanner im Aargau und Gregor Rutz in Zürich verpassten die Wahl. Dazu verpasst Thomas Minder, der als Parteiloser in der SVP-Fraktion politisiert, die Wiederwahl. Immerhin: SVP-Präsident Chiesa schaffte die Wiederwahl.
Gewählt sind:
- Zürich: Tiana Angelina Moser (GLP)
- Aargau: Marianne Binder-Keller (Mitte)
- Solothurn: Franziska Roth (SP)
- Schaffhausen: Simon Stocker (SP)
- Tessin: Marco Chiesa (SVP), Fabio Regazzi (Mitte)
ZH: Patrick Hässig rutscht in Nationalrat nach
ZH: Tiana Angelina Moser im Sieger-Interview
Die GLP hat wieder eine Ständerätin, Tiana Angelina Moser ist gewählt. Im Interview gibt sie sich erleichtert. Sie verfüge über ein klassisches grünliberales Profil. «Man kennt meine Politik, offensichtlich haben die Zürcherinnen und Zürcher das geschätzt.»
Für den Wirtschaftsstandort sei es wichtig, die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zu regeln. Auch Klimaschutz und der Fachkräftemangel werde sie beschäftigen.
ZH: GLP-Moser gewählt
GLP-Nationalrätin Tiana Angelina Moser schafft den Sprung in den Ständerat. Die 44-Jährige lässt im zweiten Wahlgang SVP-Nationalrat Gregor Rutz klar hinter sich. Im Kanton Zürich verliert das bürgerliche Lager damit seinen Sitz.
Moser erhielt 206'493 Stimmen, Rutz 159'328 Stimmen, wie das Statistische Amt des Kanton Zürich am Sonntagnachmittag mitteilte. Die Wahlbeteiligung betrug 39,6 Prozent.
Moser schaffte dank einer starken Mobilisierung die Wahl in den Ständerat. Sie holte insbesondere in den Städten Zürich und Winterthur einen grossen Vorsprung heraus. Aber auch in Agglomerationsgemeinden wie Schlieren, Illnau-Effretikon und Mettmenstetten schwang sie obenaus. In ländlichen Gebieten blieb sie derweil erwartungsgemäss tendenziell hinter Rutz zurück. (SDA)
Die Wahl der GLP-Kandidatin ist eine herbe Niederlage für das Zürcher bürgerliche Lager. SP-Ständerat Daniel Jositsch hatte die Wiederwahl bereits im ersten Wahlgang geschafft. Der zweite Sitz, der durch den Rücktritt von Ruedi Noser (FDP) frei wird, blieb am 22. Oktober noch unbesetzt.
TI: Chiesa und Regazzi gewählt
Im Kanton Tessin verteidigt der SVP-Präsident Marco Chiesa seinen Ständeratssitz. Auch Fabio Regazzi (Mitte) ist gewählt. Regazzi sass bislang im Nationalrat und ist gleichzeitig Gewerbeverbandspräsident. Er zieht neu in die kleine Kammer ein und holt den Sitz von SP-Frau Marina Carobbio, die in die Tessiner Regierung gewählt wurde.
SVP-Präsident Chiesa erhielt 40,3 Prozent der Stimmen (40'549 Stimmen), Regazzi 31,8 Prozent der Stimmen (31'962 Stimmen).
Nur 2406 weniger Stimmen vereinte der Drittplatzierte FDP-Nationalrat Alex Farinelli auf sich.
Die Grüne Greta Gysin, die für die Linke den ehemaligen Sitz von Carobbio zu verteidigen versuchte, erzielte mit 27'606 Stimmen ein sehr gutes Resultat.
Die Wahlbeteiligung lag beim zweiten Ständeratswahlgang im Tessin bei 45,54 Prozent und war damit niedriger als im ersten Wahlgang (48,23 Prozent).
AG: Binder-Keller feiert mit Enkelinnen
Im Kanton Aargau feiert Marianne Binder-Keller. «Ich konnte über die Parteigrenzen mobilisieren», sagt sie. Versprechen an das linke Lager, die sie ebenfalls unterstützt haben, hätte es aber keine gegeben, sagt sie im Blick-Interview.
Sie wolle zwei Legislaturen bleiben, kündigt sie an. Gratulationen gab es nicht nur vom politischen Gegner, sondern auch von der Familie: Die Enkelinnen Julie (3) und Emilie (1) feierten mit.
ZH: Jetzt spricht Rutz
Gregor Rutz (SVP) dürfte im Kanton Zürich die Wahl in den Ständerat verpassen. Im Blick-Interview nimmt er Stellung. Die Bürgerlichen müssten geschlossener auftreten und besser mobilisieren, analysiert er. An der SVP sei nicht gelegen, aber die gesamte bürgerliche Zusammenarbeit müsse überprüft werden.
SO: Tränen bei Franziska Roth
Franziska Roth hat es geschafft, sie zieht in den Ständerat ein. Bei der Dankesrede fliessen die Tränen, wie Leserreporter Blick berichten.
AG: SVP-Giezendanner – «Es scheint ein Fluch zu sein»
SVP-Kandidat Benjamin Giezendanner hat im Kanton Aargau gegenüber Marianne Binder-Keller verloren. Im Blick-Interview äussert er sich zu den Gründen.
SH: Simon Stocker (SP) schmeisst Thomas Minder (parteilos) aus dem Ständerat!
Überraschung in Schaffhausen: Simon Stocker (SP) schmeisst den Bisherigen Thomas Minder (parteilos) aus dem Ständerat! Stocker holt 15'769 Stimmen, Minder nur 13'505.
Damit endet wohl Minders Politkarriere. 2011 war er in den Ständerat eingezogen. Minder gilt als Vater der Abzocker-Initiative, die 2013 deutlich vom Volk angenommen wurde. Millionenvergütungen und goldene Fallschirme für Topmanager wurden so verboten.
Stocker lag den ganzen Nachmittag über hinter Minder – bis er in der Stadt Schaffhausen das Resultat drehte. Dort holte er über 3500 Stimmen mehr als der Bisherige.
«Es ist unfassbar», sagt Simon Stocker in einer ersten Reaktion. Er habe 20 Jahre im Kanton Schaffhausen gearbeitet. Die Bevölkerung habe einen jüngeren Kandidat gewollt.