Millionenteure Verteilaktion zum Schutz bei Atom-GAU
Bund verteilt wieder Jodtabletten

Nach neun Jahren startet der Bund wieder eine Jodtabletten-Verteilaktion. Postangestellte müssen sie von Hand etikettieren und verteilen – die AKW-Betreiber zahlen weniger als die Hälfte der Kosten.
Publiziert: 12.10.2023 um 12:29 Uhr
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Aktualisiert: 13.10.2023 um 14:16 Uhr
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Vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner erhalten in den kommenden Wochen neue Jodtabletten.
Foto: PD
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Tina Berg
Beobachter

Es ist ein logistischer Kraftakt, wie er nur alle Jahrzehnte gestemmt wird: Ab Mitte Oktober schickt der Bund kleine Schächtelchen mit Pillen an vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in 779 Gemeinden. Im Umkreis von 50 Kilometern rund um die AKW Beznau, Leibstadt und Gösgen, von Delémont bis Schaffhausen. Zuletzt fand eine solche Verteilung vor neun Jahren im Herbst 2014 statt.

Jede Person – Kinder und Erwachsene – erhält eine eigene Packung. Das ist eine vorsorgliche Schutzmassnahme für den Fall, dass es einen Unfall in einem der Schweizer Atomkraftwerke gibt. Wenn in einem solchen Notfall radioaktives Jod austreten würde, müsste die Bevölkerung die Pillen auf Anordnung der Behörden rasch einnehmen (weitere Infos). Diese Kaliumiodid-Tabletten – auch Jodtabletten genannt – sollen vor Schilddrüsenkrebs schützen.

Es gibt eine eigene Hotline

Die Armeeapotheke verantwortet die Verteilung, eine mit der Projektleitung beauftragte Geschäftsstelle koordiniert alles inklusive Beschaffung der Postadressen und den Betrieb einer Hotline.

Für die Lieferung an die Haushalte ist am Ende die Post zuständig. Weil die Schachteln jedoch zu klein für die Paketzentren sind, aber zu dick für die Briefzentren, kann man sie nicht maschinell sortieren. Deshalb müssen sie direkt an die lokalen Poststellen geliefert werden, wo die Pöstlerinnen und Pöstler sie von Hand mit Adressetiketten bekleben und schliesslich direkt zustellen.

Jodtabletten – die wichtigsten Infos

Wozu dienen die Tabletten? Zur Vorbeugung von Schilddrüsenkrebs. Die Tabletten verhindern, dass sich über die Atemluft aufgenommenes radioaktives Jod in der Schilddrüse anreichert.

Wann sollen sie eingenommen werden? Es ist wichtig, dass die Tabletten zum richtigen Zeitpunkt zum Einsatz kommen. Deshalb dürfen sie nur im Notfall auf Anordnung der Behörden eingenommen werden. Wenn Gefahr droht, alarmieren die Behörden die Bevölkerung mittels Sirenen, Radio und anderen Medien.

An wen werden die Jodtabletten verteilt? An die Bevölkerung im Umkreis von 50 Kilometer rund um die Atomkraftwerke Beznau, Leibstadt und Gösgen.

Wer soll die Jodtabletten im Notfall einnehmen? Kinder, Jugendliche, Schwangere und Personen unter 45 Jahren. Das Risiko für Schilddrüsenkrebs nimmt mit dem Alter stark ab, deshalb ist die Einnahme ab 45 nicht mehr empfohlen.

Mehr Informationen und Hotline für Fragen: www.jodtabletten.ch

Wozu dienen die Tabletten? Zur Vorbeugung von Schilddrüsenkrebs. Die Tabletten verhindern, dass sich über die Atemluft aufgenommenes radioaktives Jod in der Schilddrüse anreichert.

Wann sollen sie eingenommen werden? Es ist wichtig, dass die Tabletten zum richtigen Zeitpunkt zum Einsatz kommen. Deshalb dürfen sie nur im Notfall auf Anordnung der Behörden eingenommen werden. Wenn Gefahr droht, alarmieren die Behörden die Bevölkerung mittels Sirenen, Radio und anderen Medien.

An wen werden die Jodtabletten verteilt? An die Bevölkerung im Umkreis von 50 Kilometer rund um die Atomkraftwerke Beznau, Leibstadt und Gösgen.

Wer soll die Jodtabletten im Notfall einnehmen? Kinder, Jugendliche, Schwangere und Personen unter 45 Jahren. Das Risiko für Schilddrüsenkrebs nimmt mit dem Alter stark ab, deshalb ist die Einnahme ab 45 nicht mehr empfohlen.

Mehr Informationen und Hotline für Fragen: www.jodtabletten.ch

Pandemie, Krieg oder Klima – und jetzt Atomunfall

Die Pöstler liefern aber nicht nur ein Notfallmedikament ins Haus, sie bringen gleichzeitig auch ein fast vergessenes Horrorszenario zurück an den Familientisch. Nach den Ereignissen der letzten Jahre denken viele beim Stichwort Katastrophe oder Krise eher an Pandemie, Krieg oder Klima. Die Jodtabletten machen die Gefahr eines Atomunfalls plötzlich wieder aktuell.

Und man fragt sich unweigerlich: Auf welche Gefahren bereitet sich die Schweiz überhaupt vor? Und wer bestimmt das?

Der sogenannte Gefährdungskatalog wird alle fünf Jahre überarbeitet – im Rahmen der nationalen Risikoanalyse «Katastrophen und Notlagen Schweiz», erklärt Andrin Hauri vom Center for Security Studies der ETH Zürich. Dabei werden alle möglichen Risiken neu zusammengestellt, ihre Wahrscheinlichkeit sowie das potenzielle Schadenausmass beurteilt. Und es werden Szenarien ausgearbeitet. Federführend ist das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs). Miteinbezogen würden nebst den Behörden aber auch Fachleute aus Wissenschaft und Wirtschaft.

Von Erdbeben bis Terrorismus

«Mit aktuell 44 erfassten relevanten Gefährdungen ist die Schweiz bei der Analyse sehr breit aufgestellt», sagt Hauri. «Das im Gegensatz zu anderen Ländern, wie etwa Grossbritannien mit 36. Oder Deutschland, das jedes Jahr eine einzelne Gefährdung in den Fokus nimmt.» Da gebe es unterschiedliche Ansätze.

Tatsächlich umfasst der Schweizer Katalog alles von Erdbeben, Mobilfunk- oder Stromausfällen, Pandemie, Terrorismus, Unruhen, Hagel bis zu Meteoriteneinschlägen. Das sei die Grundlage für den nationalen Risikodialog, bei dem letztlich auf politischer Ebene ausgehandelt werde, was eine sinnvolle Antwort auf eine Gefahr ist. Zum Beispiel Hochwasserschutz oder der Aufruf, zu Hause einen Notvorrat anzulegen.

Die richtige Antwort auf eine Gefahr zu finden, ist nicht einfacher geworden in den letzten Jahren. «Alles wird immer komplexer, und unsere Verwundbarkeit wird grösser», sagt ETH-Experte Hauri. «Wenn etwa der Strom ausfällt, sind heute die Konsequenzen tiefgreifender als vor 20 oder 40 Jahren.» Die technische Abhängigkeit sei stark gewachsen, und kritische Infrastrukturen würden immer wichtiger.

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Bund würde Einnahme anordnen

Bei einem Ereignis mit erhöhter Radioaktivität gehört die Einnahme der Jodtabletten zu den Schutzmassnahmen, die von der Nationalen Alarmzentrale NAZ, einer Abteilung des Babs, angeordnet werden können. Weitere Massnahmen wären zum Beispiel, dass man sich im Haus aufhält oder in Schutzräumen oder Kellern in Sicherheit bringt.

Nicht bei allen kommen die Massnahmen der Behörden gut an. Greenpeace sorgte zum Beispiel bei der letzten Jodtabletten-Verteilung 2014 mit einer Aktion für Aufsehen: An eine Million Haushalte versandte die Umweltorganisation einen Jodtabletten-Flyer, der dem offiziellen Informationsblatt täuschend ähnlich sah. Darauf übte sie Kritik an den Schutzmassnahmen.

Etwa dass man die realen Risiken herunterspiele. Oder dass der Slogan «Im Notfall gut geschützt» irreführend sei, weil die Tabletten nur gegen Jod einen gewissen Schutz lieferten – nicht aber gegen zahlreiche andere Stoffe, die bei einem Reaktorunfall freigesetzt werden. Die Tabletten seien nur ein Tropfen auf den heissen Stein und würden davon ablenken, dass man keine genügende Antwort auf das enorme Risiko habe.

Greenpeace fordert Abschaltung

Auch heute sagt Florian Kasser, Atomexperte von Greenpeace: «Die Gefahr ist immer noch dieselbe. Die Schweizer Reaktoren gehören zu den ältesten der Welt. Der einzige wirklich wirksame Schutz gegen AKW-Unfälle ist deren Abschaltung.» Es sei unmöglich, sich auf dieses Risiko richtig vorzubereiten.

Besonders in der Schweiz, wo die Meiler mitten im dicht besiedelten Gebiet stünden und deshalb sehr viele Menschen von einem Notfall betroffen wären.

Bis vors Bundesgericht

Die Politik setzt sich bis heute auch mit der Finanzierung der Jodtabletten-Verteilung auseinander. Nach Fukushima weitete der Bund das Verteilgebiet aus: von 20 auf 50 Kilometer rund um die Kraftwerke. Gleichzeitig wollte er, dass die Betreiber die Kosten dafür vollständig übernehmen.

Nach dem Verursacherprinzip: Wer für die Gefahr verantwortlich ist, sollte auch die Schutzmassnahmen bezahlen. Die Stromkonzerne wehrten sich allerdings bis vor Bundesgericht dagegen – erfolgreich. Das Gericht entschied 2018, dass für die Kostenüberwälzung die gesetzliche Grundlage fehle.

Für die diesjährige Verteilung konnte sich der Bund trotzdem mit den AKW-Betreibern einigen. 24 Millionen Franken kosten die Lagerung und Verteilung total. Davon werden 11 Millionen von den Atomkraftwerkbetreibern berappt. Den Rest tragen die Steuerzahlerinnen und -zahler.

Das will der Bundesrat für künftige Jodtabletten-Abgaben aber ändern und hat deshalb eine Revision des Strahlenschutzgesetzes in die Vernehmlassung gegeben. Im Juni 2023 ist sie zu Ende gegangen. Als Nächstes folgt der Ergebnisbericht.

Und in der Zwischenzeit finden Millionen von frischen, kleinen Jodtabletten-Schächtelchen ihren Weg in die Briefkästen.

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