SonntagsBlick: Das Erdbeben in der Türkei ist aus den Zeitungen fast ganz verschwunden. Welche Schlagzeilen verpassen wir?
Manuel Bessler: Das Medieninteresse nimmt bei solchen Katastrophen leider rasch ab. Endet eine Rettungsaktion, ist es aber mit dem Elend nicht vorbei. Während wir hier sprechen, sind in der Türkei 25 Leute vom Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe im Einsatz. Es ist ein Jahrhundertereignis, eine Katastrophe mit gigantischen Ausmassen.
Was machen diese Helferinnen und Helfer vor Ort?
Ein Team kümmert sich um Notunterkünfte. Die vom Erdbeben betroffenen Menschen haben Angst, in ihre Häuser zurückzukehren. Wir errichten Unterstände, verteilen Decken. Aus unserem dezentralen Materiallager in Dubai haben wir 300 Zelte bezogen, die jetzt in Gaziantep aufgestellt werden. Weiter unterstützen wir ein Spital, in dem es an Personal und Ausrüstung mangelt.
Die 78-köpfige Rettungskette, die auf Rettung und medizinische Erstversorgung von Verschütteten nach Erdbeben spezialisiert ist, kam erstmals zum Einsatz in Ihrer Amtszeit. Sie weilten in den Ferien. Wurmt Sie das?
Es hat mir die Fingernägel nach hinten gerollt! Man kann das mit dem Feuerwehrmann vergleichen, der darauf wartet, einen Brand zu löschen. Aber natürlich hofft niemand das Elend herbei.
Wie haben Sie die Geschehnisse verfolgt?
Ich war auf dem Segelschiff, irgendwo draussen im Meer. Wenn ich ein Handysignal hatte, kontaktierte ich die Kollegen. Da wurde mir klar: Es läuft wie geschmiert. Ende März gehe ich in Pension – eigentlich benötigt es mich gar nicht mehr. Die Feuerprobe ist bestanden.
Wenn die Schweiz Partei ergreift, wie etwa in der Ukraine, erschwert das Ihre Arbeit. Was bedeutet das für die Helferinnen und Helfer?
Die Schweiz geniesst international eine hohe Akzeptanz und Glaubwürdigkeit. Das ist zentral, denn ohne Zugang ist Humanitäre Hilfe unmöglich. Unparteilichkeit und Neutralität sind das Fundament der Humanitären Arbeit. Neutralität im humanitären Kontext bedeutet: Wer Hilfe benötigt, soll Hilfe bekommen – egal, ob es sich um Streitpartei A oder B handelt.
Das Elend beschäftigt Sie nun seit 30 Jahren. Wie hat Sie das als Mensch verändert?
Manchmal komme ich mir schon vor wie Sisyphus: Wir bauen etwas auf – und am nächsten Tag wird es wieder zerbombt. Das führt zwar nicht zu Resignation, wohl aber zu Frustration. In der Ukraine wird täglich das Völkerrecht gebrochen, gerade mal zwölf Autostunden vom Genfer Sitz des Uno-Menschenrechtsrats entfernt. Ich musste also lernen, Erfolg neu zu definieren: Die Probleme der Kurden kann ich nicht alleine lösen, aber vielleicht jene dieser kurdischen Familie, die dank unserer Arbeit wieder Zugang zu sauberem Wasser hat.
Ihre Karriere starteten Sie als Jurist am Zürcher Paradeplatz, weshalb wurde Ihnen das Bankermilieu zu eng?
Schon als Kind wollte ich Anwalt werden. Als ich es dann war, fühlte es sich nicht so an, wie ich mir das vorgestellt hatte. Dann hatte ich einfach Glück: Im «Tages-Anzeiger» stolperte ich über ein Inserat. Das IKRK suchte einen Juristen. Das Völkerrecht hatte mich schon immer fasziniert, damit konnte man am Paradeplatz aber kein Geld verdienen. Beim Lesen der Annonce wusste ich sofort: «That’s it, das will ich machen.» Mein Vater war natürlich entsetzt: «Willst du jetzt die Welt retten?» Ich bekam den Zuschlag – und habe es seither nie bereut.
Worauf haben Sie sich eingelassen damals?
Auf eine sinnstiftende und sehr erfüllende Arbeit, die aber auch ihren Preis hat. Man muss sehr aufpassen, dass man nicht zu einem Krisen-Junkie wird. Wenn einem die Kugeln um die Ohren zischen, löst das Adrenalinschübe aus. Auf Dauer ist das ungesund.
Wo haben Sie diesen Kugelhagel hautnah erlebt?
Auf dem Balkan während der Belagerung Sarajevos zum Beispiel, Anfang der 90er-Jahre. Der Weg vom Flughafen ins Stadtzentrum führte durch die sogenannte Sniper Alley, die Scharfschützen-Gasse. Wir waren in einem Radpanzer unterwegs. Die Scharfschützen machten sich einen Spass daraus, uns unter Beschuss zu nehmen. Ihre Patronen konnten unseren Fahrzeugen nichts anhaben, sie wollten uns vermutlich bloss Angst einjagen.
Manuel Bessler (64) ist seit 2011 Leiter der Humanitären Hilfe und Vizedirektor der Deza. Er studierte in Zürich Recht und begann 1991 sein Engagement beim IKRK, unter anderem als Rechtsberater der IKRK-Delegation in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Er leitete Einsätze in Haiti, Tschetschenien und im Irak. Nach seinem Wechsel zur Uno diente er etwa als militärischer Mitarbeiter des Generalinspektors der Schutztruppe der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien. Ende März geht Manuel Bessler in Pension.
Manuel Bessler (64) ist seit 2011 Leiter der Humanitären Hilfe und Vizedirektor der Deza. Er studierte in Zürich Recht und begann 1991 sein Engagement beim IKRK, unter anderem als Rechtsberater der IKRK-Delegation in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Er leitete Einsätze in Haiti, Tschetschenien und im Irak. Nach seinem Wechsel zur Uno diente er etwa als militärischer Mitarbeiter des Generalinspektors der Schutztruppe der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien. Ende März geht Manuel Bessler in Pension.
Verliefen diese Begegnungen immer so glimpflich?
Während des ersten Tschetschenien-Kriegs haben wir etwas ausserhalb von Grosny ein Spital aufgebaut. In der Nacht vom 16. Dezember 1996 kletterten bewaffnete Leute über den Zaun und erschossen sechs unserer Leute kaltblütig. Bis heute weiss man nicht, wer hinter den Morden steckte.
Wie verarbeitet man so ein Horrorerlebnis?
Unter den Opfern waren Krankenschwestern, die ich persönlich eingestellt hatte. Das ist jetzt mehr als 20 Jahre her – vergessen kann ich diese Tragödie nie.
Fühlen Sie sich verantwortlich?
Ja, klar! Es war meine Delegation. Die Sicherheit steht für mich an oberster Stelle. Nach dem Überfall in Tschetschenien zogen wir sofort ab. Anderthalb Jahre Arbeit wurde in einer Nacht zerstört.
Haben Sie sich nie gefragt, was Sie hier eigentlich machen?
Sie müssen nur einmal ein zerstörtes Haus betreten und die Familie besuchen, die in ihrem Keller lebt. In angsterfüllte Kinderaugen schauen. Diese Begegnungen motivieren mich, etwas zu verändern: Mit kleinem Aufwand, erzielt die humanitäre Hilfe oft einen grossen Impact!
Um humanitäre Hilfe leisten zu können, müssen Sie sich auch mit Schurken an den Tisch setzen. Wie verhandelt man mit dem Bösen?
Wenn es der humanitären Sache dient, rede ich auch mit dem Teufel. Um einen Konvoi mit Medikamenten durch ein umkämpftes Gebiet zu bringen etwa. Es gilt dann, das Humanitäre vom Politischen zu trennen. Im Kongo fragte mich einst ein Rebellenführer: «Hey du, weshalb ist Frieden besser als Krieg?» Ich antwortete ihm, es könne doch nicht sein Ziel sein, dass die Menschen in seinem Land, auch seine eigenen Leute, dauerhaftem Leid ausgesetzt seien. Man muss dabei aber aufpassen, dass man nicht zum Missionar wird.
Wie gewinnt man das Vertrauen der Konfliktparteien?
Durch Präsenz und ein gutes Kontaktnetz. Das bedingt, dass man sich auf andere Kulturen und Gewohnheiten einlassen kann. Sie müssen also Zeit und Geduld investieren, viele Tassen Tee oder auch mal ein paar Gläser Wodka trinken – manchmal bereits um zehn Uhr morgens.
Nach zehn Jahren bei der Deza treten Sie Ende Monat so halb in den Ruhestand. Jetzt bewerben Sie sich als Vizepräsident beim Schweizerischen Roten Kreuz. Das Hilfswerk steckt in einer Krise, es gilt als zerstritten. Weshalb wollen Sie sich das antun?
Es ist die humanitäre Arbeit, die mich fasziniert. Mit meinen langjährigen humanitären Erfahrungen und Kontakten könnte ich mich sehr gut einbringen. Beim Roten Kreuz will ich nicht der Berater sein, dem niemand zuhört. Ich würde gerne mitgestalten.