Der Ukraine-Krieg hat in Europa eine Zeitenwende ausgelöst. Was einst als sicher galt, ist ins Wanken geraten. Auch in der Schweiz. Während Bundesrat und Parlamentsmehrheit mit Verweis aufs Neutralitätsrecht selbst indirekte Waffenlieferungen bis heute ablehnen, hat in der Bevölkerung der Glaube an die Neutralität zu bröckeln begonnen.
Zwar stehen nach wie vor 91 Prozent hinter dem Neutralitätsprinzip. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht das aber einem Minus von sechs Prozentpunkten. Immer weniger wollen sich auch alleine auf die Neutralität verlassen. Heute seien nur noch 55 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass sie uns vor internationalen Konflikten schützt. Ein Jahr vorher waren es noch 69 Prozent.
Schutz eines Militär-Bündnisses erwünscht
Zu diesem Fazit kommt die Studie «Sicherheit 2023» der Militärakademie (Milak) und dem Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich, die am Donnerstag vorgestellt wurde. Die Studie zeigt zudem: Mittlerweile wünscht sich gut ein Drittel der Befragten die Schutzwirkung eines militärischen Bündnisses in Europa.
Im Fokus steht dabei die Nato. Heute befürworte eine knappe Mehrheit von 55 Prozent eine Annäherung an das westliche Verteidigungsbündnis – zehn Prozentpunkte mehr als noch im Januar 2021. Ein Nato-Beitritt hingegen bleibt weiter ein Minderheitsanliegen von 31 Prozent. Fakt aber bleibe: «Noch nie war die Zustimmung für eine Annäherung an die Nato so gross wie bei der Umfrage im Januar», führte Studienmitautor Tibor Szvircsev aus.
Für eine knappe Mehrheit ist klar: Eine Annäherung an die Nato und eine gemeinsame Verteidigungsplanung sind mit der Neutralität vereinbar. Das ist Wasser auf die Mühlen von Bundesrätin Viola Amherd (60). Denn auch die Verteidigungsministerin strebt eine engere Zusammenarbeit mit der Nato an – immer im Rahmen der Neutralität, wie sie betont.
Die Zustimmung in der Bevölkerung ist abhängig von der politischen Einstellung der Befragten: Während Personen aus dem linken Lager und der Mitte eine Annäherung mehrheitlich befürworten, ist die Befürwortung im politisch rechten Lager deutlich geringer.
Es zeige sich deutlich: «Wenn in Europa Krieg herrscht, steigt die Akzeptanz der Nato.» Das habe sich gezeigt beim Jugoslawien-Krieg 1994, beim Kosovo-Krieg 1999, bei der Annexion der Krim durch Russland 2014 und nun beim Ukraine-Krieg.
Nicht mehr auf bewaffnete Neutralität verlassen
Umgekehrt verliert die mythenbeladene bewaffnete Neutralität in der Bevölkerung an Bedeutung. Die Zustimmungsraten zur militärischen und nationalen Autonomie seien «signifikant gesunken», betonen die Studienverfasser; von 41 auf noch 33 Prozent. Heute sei die Schweizer Bevölkerung «öffnungs- und kooperationsbereiter».
Bisherige Befunde, dass über 65-Jährige die Landesverteidigung höher gewichten als Jüngere, zeigten sich seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs nicht mehr. «Somit ist vor allem bei älteren Personen die Überzeugung, dass sich die Schweiz nur auf die eigene Landesverteidigung verlassen soll, am deutlichsten gesunken», schlussfolgern die Autoren.
Jüngere zurückhaltender als Ältere
Ins Bild passt da auch, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger finden, dass die Schweiz bei militärischen Konflikten eine klare Stellungnahme abgeben soll – 27 statt wie bisher 18 Prozent. Das sei deutlich über dem Mittel der letzten zehn Jahre. Dabei zeigen sich Jüngere zurückhaltender als ältere Befragte. Das Gleiche gilt für die Romandie (Zustimmung: 17 Prozent) und das Tessin (20 Prozent) gegenüber der Deutschschweiz (30 Prozent).
Deutlich ist allerdings das Bild bei den Russland-Sanktionen. So sind drei Viertel der Befragten weiterhin von deren Richtigkeit überzeugt. Für 70 Prozent sind sie zudem mit der Neutralität vereinbar. Rund ein Drittel geht dagegen davon aus, dass die Schweiz ihre Guten Dienste wegen der Sanktionen nicht mehr anbieten kann.
Auch die Schweizer Armee hat in der Bevölkerung an Stellenwert gewonnen. 78 Prozent empfinden sie als notwendig, nochmals drei Prozentpunkte mehr als vor einem Jahr. Auch sei die Meinung mittlerweile verbreiteter, dass die Schweiz zu wenig Geld für die Verteidigung ausgibt, hält die Studie fest. Und: Schweizerinnen und Schweizer stehen unverändert klar hinter der Wehrpflicht und dem Milizprinzip. Gleichzeitig zeigen sie sich zufrieden mit der Leistung der Armee.