Worum geht es, gegenwärtig und global? Die Antwort liefert der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew. Putins Überfall auf die Ukraine kommentiert er so: «Je länger der Krieg dauert, desto klarer wird, dass es sich nicht um einen Krieg zweier Länder handelt, sondern zweier Welten, und dass von seinem Ausgang die Zukunft Europas abhängt.»
Krieg zweier Welten! Zukunft Europas!
Was hat das mit der Schweiz zu tun? Was hat die Schweiz damit zu tun?
Bisher orientierte man sich in der verschonten Eidgenossenschaft an der Parole: Die Neutralität wirds schon richten. Ganz wie Geheimrat von Goethe sagte. In den Schlussversen seines Gedichts «Diner zu Koblenz im Sommer 1774» schildert er eine Begegnung mit seinem Zürcher Freund Johann Caspar Lavater und dem deutschen Philanthropen Johann Bernhard Basedow so: «Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten.»
Wie der Dichter hielt es auch die Schweiz: Kind in der Welt, Kind der Welt, bloss nicht erwachsen werden, die andern sorgen ohnehin, gewissermassen automatisch für unser Wohlergehen, die EU wie die Nato, ist doch in allem, was sie tun, die Schweiz inbegriffen, sowohl in der wirtschaftlichen Prosperität wie in der militärischen Sicherheit.
In der «Neuen Zürcher Zeitung» meldete sich der frühere Spitzendiplomat und aussenpolitische Denker Tim Guldimann zum Thema – und rieb den Eidgenossen die ursprüngliche Banalität ihres Abseitsstehens unter die Nase: «Die historische Grundlage der schweizerischen Neutralität war das Interesse der europäischen Mächte am intakten Söldnermarkt und am freien Zugang zu den Alpenpässen.»
Ernüchternder Schluss: Europa hat die Neutralität gewollt, wenn nicht erzwungen!
Guldimann fährt fort: «Das frühere Interesse an der neutralen Sonderrolle ist aber bei unseren europäischen Partnern schon lange hinfällig geworden, vielmehr erwarten diese heute unsere Solidarität.»
In der Tat, die Europäische Union will künftig kein Weltkind mehr in den Schlaf wiegen!
Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz fordert in Partnerschaft mit der Nato eine gemeinsame Luftabwehr für Europa, die auch für Bedrohungen aus dem Weltraum gerüstet ist. Von diesem Schutz soll die Schweiz ebenfalls profitieren – einmal mehr. Allerdings dürfte es diesmal kaum ohne politisches Bekenntnis und praktischen Betrag zum neuen Sicherheitsschirm abgehen.
Es ist wahr, in den Kriegen des 20. Jahrhunderts hat der neutrale Sonderweg der Schweiz existenziell gedient. Vor allem Hitlers Inferno ging für das Alpenland glimpflich aus. Staatsklugheit und Staatsglück, gepaart mit neutraler Staatsdoktrin, schützten es – und verfestigten das aussenpolitische Konzept der Weltverweigerung.
Nach dem globalen Desaster des Zweiten Weltkrieges jedoch fand unter den freien Völkern, vor allem unter denen Europas, ein Paradigmenwechsel statt: vom Gegeneinander zum Miteinander. Der Westen unter Führung der USA installierte die Uno; Westeuropa fand sich in der heutigen EU zusammen; die westliche Wertewelt schützte sich mit der Gründung der Nato.
Die Schweiz jedoch blieb dem neuen Sicherheits- und Freiheitssystem fern; sie weigerte sich, am gemeinsamen Tisch der Zukunftsgestalter Platz zu nehmen – und verzichtete darauf, eine wichtige, weil kluge, weil freiheitserprobte, weil kulturkonflikterfahrene Stimme zu sein; sie setzte sich an den Katzentisch.
Was Brüssel betrifft, ist Bern heute noch nicht wesentlich weiter. Eben gerade rüsten die Grünen und die Operation Libero zu einer Volksinitiative, die das Thema Europa in der Bundesverfassung verankert. Damit es endlich auch für die Schweiz zur Wirklichkeit wird? Bisher lebte sie nach dem Motto des Philosophen Arthur Schopenhauer: «Die Welt als Wille und Vorstellung». Als Schweizer Vorstellung auf der politischen Bühne eine peinliche Vorstellung!
Seit russische Bomben und Raketen die Ukraine verwüsten, kommt die wirkliche Wirklichkeit der helvetischen Wirklichkeit in die Quere. Es geht nicht länger um das Austarieren von «Schutzklauseln» in einem «Rahmenabkommen». Es geht um die Zukunftssicherung der Schweiz. Es geht um ein Rundumpaket, das mit der westlichen Welt nur durchs Mitmachen zu vereinbaren ist.
Olaf Scholz sprach im Zusammenhang mit dem Schock des Ukraine-Krieges von einer «Zeitenwende».
Für die Schweiz – Wendezeit.