«Es scheint egal zu sein, ob die Leute in Gefangenschaft geraten oder getötet werden»
Unter Lebensgefahr warten afghanische Verfolgte auf Schweizer Justiz

Die Schweiz lässt afghanische Verfolgte, die ein humanitäres Visum wollen, teilweise monatelang warten. Wieso dauert das so lange?
Publiziert: 18.11.2023 um 12:13 Uhr
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Aktualisiert: 18.11.2023 um 12:56 Uhr
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Sabine Haupt ist wütend.
Foto: Christian Fotsch
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Tina Berg
Beobachter

«Es scheint egal zu sein, ob die Leute in Gefangenschaft geraten oder getötet werden», sagt Sabine Haupt. Sie ist wütend. Der Grund: Das Bundesverwaltungsgericht braucht teilweise fast ein Jahr oder sogar noch länger, um über die Erteilung von humanitären Visa zu entscheiden. «Anders als Asylsuchende, die in der Schweiz in Sicherheit sind, warten diese Menschen im Ausland auf den Bescheid. Sie sind dort in akuter Lebensgefahr.»

Sabine Haupt ist Schriftstellerin und Professorin für Literatur an der Universität Freiburg. Doch vor zwei Jahren wurde sie unverhofft zur Fluchthelferin. Im Sommer 2021 hatten die Taliban in Afghanistan die Macht an sich gerissen. Mitten aus diesem Chaos schickte ein afghanischer Autor einen dringenden Hilferuf ans Deutschschweizer Pen-Zentrum.

Der Verein setzt sich für verfolgte und inhaftierte Autorinnen und Autoren und für Meinungsfreiheit ein. Im Vorstand: Sabine Haupt. Es gelang ihr mit Hilfe des Staatssekretariats für Migration (SEM), dem Autor und seiner Frau, einer Staatsanwältin, ein humanitäres Visum zu organisieren und sie in der Schweiz in Sicherheit zu bringen. 

Weil sich die Lage in Afghanistan weiter zuspitzte, wollte Haupt noch weiteren Menschen die Flucht ermöglichen. Und es gelang ihr tatsächlich: Bis November 2022 konnten schliesslich 43 Personen aus Afghanistan – besonders bedrohte Intellektuelle mit ihren Familien – einreisen und hier Asyl beantragen.

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Bei weitem keine Selbstverständlichkeit, denn humanitäre Visa werden generell nur sehr restriktiv erteilt. Letztes Jahr wurden gemäss Zahlen des SEM bei 3720 Anträgen 142 Visa gutgeheissen, dieses Jahr waren es bis Ende August bei 836 Anträgen 34 Visa. Das sind jeweils rund vier Prozent. 

Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) kritisiert die extrem restriktive Handhabung. Bis Ende 2021 führte das Hilfswerk noch einen Beratungsdienst zu humanitären Visa. Doch weil die Anforderungen immer strenger wurden – nun wird etwa ein enger Schweizbezug der gefährdeten Person verlangt –, stellte das SRK diesen Dienst schliesslich ein, um die Ressourcen anderswo einsetzen zu können.

Die Erfolgsaussichten waren so gering geworden, dass sie den Aufwand schlicht nicht mehr rechtfertigten. Das Instrument selbst hält das SRK aber nach wie vor für zentral – immerhin sei es einer der wenigen legalen Zugangswege zu internationalem Schutz. 

Keine gesetzlichen Fristen

Auch Sabine Haupt stiess bei ihrem Engagement an bürokratische Grenzen. Denn eigentlich hatte sie für noch mehr Menschen Visa beantragt. Einige davon lehnte das SEM jedoch ab. «Bis heute begreife ich nicht, aufgrund welcher Kriterien diese Entscheidungen getroffen werden. Denn die Gefährdungslage war in allen Fällen offensichtlich und praktisch identisch.»

Sie beschloss deshalb, mit Hilfe der Organisation AsyLex im September 2022 sieben der abgelehnten Fälle an die nächste Instanz, ans Bundesverwaltungsgericht, weiterzuziehen. 

In den Medien konnte man mitverfolgen, wie sich in Afghanistan die Menschenrechte in Luft auflösten. Doch die Entscheide des hiesigen Gerichts liessen auf sich warten. Weil es in Afghanistan keine Schweizer Botschaft gibt, hatten die Menschen für den Visumantrag nach Pakistan oder in den Iran fliehen müssen – und harrten dort aus, trotz teils abgelaufenen Bewilligungen und der Gefahr, ausgeschafft zu werden. Elf Monate dauerte es bis zum ersten Urteil.

Bis heute wies das Bundesverwaltungsgericht zwei Beschwerden definitiv ab und hiess drei gut, wovon zwei ans SEM zurückgewiesen wurden und noch dort hängig sind. Zwei Fälle sind nach wie vor offen. Diese Menschen warten noch immer in Pakistan oder im Iran auf die Schweizer Justiz. 

Eine klare Antwort darauf, warum das so lange dauert, gibt es vom Gericht nicht. Weil es eine hohe Zahl von Beschwerden im Ausländerrecht gebe, finde eine Priorisierung statt, sagt Rocco Maglio, Mediensprecher des Bundesverwaltungsgerichts. Bei Dublin-Fällen – also Abklärungen, welcher Staat im Dublin-Raum (EU, Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein) für ein Asylgesuch zuständig ist – gebe es zum Beispiel eine fünftägige Frist.

Auch humanitäre Visa behandle man prioritär. Für diese gibt es allerdings keine gesetzlichen Fristen, weder für die Prüfung der Anträge bei den Botschaften oder beim SEM noch für die Verfahren vor Gericht. 

Gericht kritisiert SEM scharf

«Die langen Verfahren sind angesichts der Dringlichkeit stossend und unhaltbar», sagt Michel Brülhart, Leiter der Rechtsberatungsstelle AsyLex. Die Organisation vertritt zahlreiche Fälle, die beim Bundesverwaltungsgericht hängig sind. Weil es bei allen so lange dauert, hat AsyLex beim Bundesgericht eine Aufsichtsanzeige eingereicht und strukturelle Mängel geltend gemacht. Eine Bedingung für die Erteilung eines humanitären Visums sei ja, dass man unmittelbar und konkret an Leib und Leben gefährdet ist. Deshalb sei es absurd und nicht nachvollziehbar, dass die Verfahren so lange verzögert würden. 

Doch das Bundesgericht wies die Aufsichtsanzeige im Oktober ab, am Vorgehen des Bundesverwaltungsgerichts sei nichts auszusetzen. Mediensprecher Maglio sagt: «Das zeigt unmissverständlich: Das Gericht macht seinen Job seriös.»

Ob das für alle involvierten Behörden gilt, darf zumindest in Frage gestellt werden, zeigt ein aktuelles Urteil zu einem der Fälle von Sabine Haupts Rettungsaktion. Ein ehemaliger Staatsanwalt, der auch Terroraktionen von Taliban aufzuklären hatte, floh 2021 mit seiner Familie nach Pakistan. Weil ihm und der Familie von dort die zwangsweise Ausschaffung nach Afghanistan drohte, befand das Bundesverwaltungsgericht, dass er ein humanitäres Visum erhalten soll.

Es kritisierte das Staatssekretariat für Migration, das den Antrag zuvor abgelehnt hatte, scharf: Das Risiko einer Zwangsrückführung sei erheblich, und die Vorinstanz (also das SEM) habe das «nicht faktenbasiert abgeschätzt». Das SEM kommentiert den Fall nicht. Man habe das Urteil zur Kenntnis genommen und analysiert.

Im Oktober 2023 konnte der Mann mit seiner Familie schliesslich in die Schweiz einreisen. Eine grosse Genugtuung für Sabine Haupt. Doch ein Wermutstropfen bleibt: Wenn das SEM gleich so entschieden oder das Gericht wenigstens schneller geurteilt hätte, wären nicht so viele Spendengelder nötig gewesen, um die Familie 19 Monate lang in Pakistan über Wasser zu halten.

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