Benafsha Efaf (38) hat es fast geschafft, als der Geheimdienst der Taliban in der Unterkunft auftaucht. Bis zur Grenze zum Nachbarland Tadschikistan, dem Tor in die Freiheit, wäre es nicht mehr weit. Doch in der Stadt Kundus, im Nordosten Afghanistans, heisst es: Kontrolle! Efaf ist mit einer Gruppe auf der Flucht. Sie weiss, was ihr droht. Seit der Machtübernahme der Taliban steht ihr Name auf der Todesliste.
Die Afghanin hört das Gespräch der Männer mit. Schnell zieht sie ihr bestes Kleid und Schmuck an. Efaf gibt vor, dass ihre Gruppe auf dem Weg zu einer Hochzeit sei. Die List verfängt, die Taliban glauben ihr. So schafft sie es auf einen Evakuierungsflug – und landet in der Schweiz.
Taliban nehmen ihr alle Rechte
Das war vor zwei Jahren. «Noch immer fühlt es sich wie ein Traum an», erzählt Efaf. Sie kam als Flüchtling in unser Land, als eine Frau, der in Afghanistan alle Rechte genommen wurden und die ohne männliche Begleitung nicht mehr auf die Strasse durfte.
Jetzt soll Efaf bald selbst Flüchtlingen helfen, die psychische Belastung zu lindern. Das Pilotprojekt nennt sich «Compaxion» und ist neu in der Schweiz. Die ersten Investitionen von 1,2 Millionen Franken kommen vom Bund und den Kantonen Aargau und Zug.
Erfahrungsgemäss leiden 50 bis 60 Prozent der Asylsuchenden an psychischen Problemen. Weniger als 10 Prozent der Betroffenen erhalten eine Behandlung. Im Schnitt betragen die Wartelisten zwölf Monate bis anderthalb Jahre für Geflüchtete.
Psychiater kann nicht helfen
Manche bekommen schneller Hilfe, so wie Efaf. Bereits nach zwei Monaten konnte sie zum Psychiater. Sie erzählte ihm von ihren Erlebnissen. Er antwortete stets: Unglaublich, das klingt krass! «Das gab mir das Gefühl: Dieser Mensch versteht mich nicht», sagt die Afghanin. Also liess sie die Therapie sein. «Ich merkte, ich brauche ein gutes Gespräch mit jemandem, der meine Geschichte nachvollziehen kann.»
In Afghanistan war Efaf eine einflussreiche Frau. Über 1000 Mitarbeitende hatte sie unter sich. Ihre NGO «Women for Afghan Women» betrieb 33 Frauenhäuser. Jeden Monat suchten 350 neue Frauen Schutz bei ihr. Weil sie zwangsverheiratet, geschlagen oder vergewaltigt worden waren. Als Anwältin kämpfte Efaf vor Gericht, damit die Peiniger, meist die eigenen Ehemänner, im Gefängnis landen.
In der Schweiz, im Bundesasylzentrum in Zürich, lebte sie mit Familien in einem Zimmer. «Unter der fehlenden Privatsphäre habe ich am meisten gelitten», erzählt Efaf. Und: «Ich fühlte mich, als hätte ich meine Identität verloren.» Plötzlich galt sie als «Flüchtling».
«Schweiz schaut nicht zu den Migranten»
Als Menschenrechtsaktivistin und aus eigener Erfahrung weiss Efaf, wie es den Frauen in Afghanistan ergeht. Sie versteht ihre Landsleute, die flüchten mussten und sie spricht deren Sprache. Darum geht es im Pilotprojekt «Compaxion». Flüchtlinge sollen Flüchtlingen helfen, weil sie leichter eine Beziehung aufbauen können – weil sie auf Augenhöhe mit ihnen sprechen.
Psychisch belastete Menschen sollen Hilfe erhalten, bevor sie schwer krank werden. Der Ansatz ist wissenschaftlich erforscht und wird bereits in vielen Ländern angewandt, darunter in Deutschland, im Irak und in der Ukraine.
Obwohl die Schweiz jetzt das Projekt startet – für Experten kommt es zu spät. «Die Schweiz will seit längerem nicht zu den Migranten schauen», meint Esther Oester (61). Als Geschäftsleiterin von «Paxion» verantwortet sie das Projekt. «Erst wenn die Flüchtlinge chronisch oder schwer krank sind, schickt man sie zum Psychiater.» Das Asylsystem sei sehr restriktiv, um Migranten abzuschrecken. «Dabei liesse sich sehr viel Geld einsparen, wenn man die anerkannten Flüchtlinge früher psychisch beraten würde», sagt sie.
Eine Stütze für Leidtragende
Mit dem Pilotprojekt soll verhindert werden, dass Migranten nicht arbeiten können, Sozialhilfe beziehen und beim Psychiater landen. Doch wie viel Geld dadurch eingespart werden kann, ist unklar. Es gilt hierzulande nun, die notwendigen Erfahrungen zu sammeln.
Zusammen mit 16 anderen Flüchtlingen besucht die Afghanin Efaf seit Anfang September eine Ausbildung in Aarau. Sie alle besitzen eine fachliche Vorqualifikation und sprechen gut Deutsch. Nach der Ausbildung arbeiten sie bis 2027 als «Counselor» und beraten Asylsuchende.
Wie es danach weitergeht, ist unklar. Das Pilotprojekt braucht für den Betrieb genügend Aufträge und Spenden, um überleben zu können. Efaf glaubt aber fest an den Erfolg. Sie hat ihre Rolle wiedergefunden – als Stütze für Leidtragende.