Kabul, 12. August 2021: Atiq Arvand (31) erhält einen Anruf aus der Schweiz. Er und seine Ehefrau Shabnam Simia (36) sollen nach Pakistan reisen, sagt die Stimme. Nach Islamabad, in die Schweizer Botschaft. Dorthin zurück also, wo ihnen wenige Tage zuvor das Visum zur Einreise in die Schweiz verwehrt wurde. «Professorin Sabine sagte uns am Telefon, dass uns das Schweizerische Staatssekretariat für Migration erneut anhören möchte», erzählt Arvand in der Winterthurer Wohnung des Ehepaars. Beim Gespräch servieren sie Safrantee, Kaffee und Firni, ein afghanisches Dessert.
«Professorin Sabine» – so nennen ihre Schützlinge die Literaturprofessorin und Schriftstellerin Sabine Haupt (63). Die in Deutschland aufgewachsene Schweizerin doziert und forscht an der Universität Freiburg. Zudem sitzt sie im Vorstand des Deutschschweizer PEN-Zentrums (DSPZ), einer Schriftstellervereinigung mit internationalem Dachverband. 43 Menschen, afghanische Autorinnen und Autoren sowie deren Angehörige, konnten dank ihres Einsatzes und der Unterstützung des DSPZ in die Schweiz flüchten. Arvand und Simia waren die Ersten. Ihr Hilferuf fand den Weg in die Mailbox des Autorenvereins. Haupt war die Frau, die ihnen Unterstützung zusicherte, nachdem es Arvand und Simia bereits bei unzähligen anderen Organisationen versucht hatten.
Über Stock, Stein und Stacheldraht
Drei Tage nach dem Anruf Haupts: Die Taliban übernehmen die Kontrolle Afghanistans. Für den Autor Arvand und die Staatsanwältin Simia scheint die Flucht nach Pakistan unmöglich. Sie versuchen es dennoch.
Auf der Flucht trennen sich die Wege von Arvand und Simia kurz vor der pakistanischen Grenze. Die Taliban erlauben die Durchreise nur Männern aus der Provinz Kandahar – und Frauen in deren Begleitung. Simia gibt sich als Nichte eines Freundes aus. Und Arvand? «Für mich gab es nur eine Strategie: Rennen und springen», sagt er. Über Stock, Stein und Stacheldraht. Er erzählt dies mit einem schelmischen Lächeln.
Dank der Einsprache von Sabine Haupt erhielten Atiq Arvand und Shabnam Simia in Islamabad im zweiten Anlauf einen positiven Entscheid. Im September 2021 landeten sie in Genf. Einen Monat später holt der Internationale Radsportverband 38 afghanische Radfahrerinnen dank humanitären Visa in die Schweiz. Für Haupt wird klar: Was bei Sportlerinnen geht, soll auch für die Literaten möglich sein. Sie bittet Arvand, ihr eine Liste bedrohter Autorinnen und Autoren zu erstellen. «Die erste Fassung bestand aus 145 Namen», erzählt Arvand. «Das waren für Sabine dann doch etwas zu viele.»
Der Kampf um die humanitären Visa
Das humanitäre Visum gilt seit 2013 als Ersatz für das damals abgeschaffte Botschaftsasyl. Es wird vom Staatssekretariat für Migration (SEM) an Menschen erteilt, die «unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben» gefährdet sind. Dazu wird für die beantragende Person ein Bezug zur Schweiz vorausgesetzt.
Im Februar 2022 reichte der Vorstand des DSPZ für 26 afghanische Autorinnen und Autoren sowie deren Familien, insgesamt 69 Personen, Gesuche ein. Mit dabei war ein Appell, unterschrieben von 20 namhaften Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Für jede gefährdete Person erstellte Sabine Haupt ein Dossier mit Dokumenten und Beweisen. Für die Autorinnen und Autoren, die keinen nachweisbaren Schweizbezug besassen, suchte Haupt nach Patinnen und Paten. Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie etwa Irena Brežná (72) oder Charles Lewinsky (76) stellten sich dafür zur Verfügung.
Haupt war der schwierige Weg bewusst: Anträge für humanitäre Visa werden vom SEM nur selten bewilligt. Im Jahr 2022 gingen 1683 Gesuche von Afghaninnen und Afghanen ein – nur 98 wurden akzeptiert. Beinahe die Hälfte, 41, stammten aus den Anträgen des DSPZ.
Beim Telefongespräch mit Haupt wird schnell klar, wie viel Herzblut sie in die Aktion steckt. Ins Scheinwerferlicht tritt sie mit der Geschichte, die sie erst im Herbst 2022 publik machte, dennoch nur vorsichtig: «Ich will ja nicht, dass es meinen Schützlingen schadet.»
Fast eineinhalb Jahre sind Arvand und Simia nun in der Schweiz. Beide hatten in Herat studiert, engagierten sich in NGOs und Stiftungen. Arvand schrieb Bücher über die Unterdrückung der Frau und die Geschichte linker Publikationen Afghanistans. Er arbeitete als Journalist, unterrichtete in der Untergrunduniversität Kabuls. Simia betätigte sich als Juristin für Flüchtlings- und Frauennetzwerke, verfolgte als Staatsanwältin fünf Jahre terroristische Aktivitäten. Sie erlebte den wachsenden Einfluss der Taliban mit.
Auf den ersten Blick scheinen die beiden ein gegensätzliches Paar. Rechts Arvand, der mit seinen kurz geschnittenen, dunklen Haaren, der schwarzen Hornbrille und seiner ernsten Miene wie der Archetyp des Gelehrten wirkt. Links Simia, blond, ein etwas nervöses Lächeln auf den Lippen und im ersten Moment zurückhaltend, wenn es darum geht, Englisch zu sprechen. Obwohl sie es eigentlich besser könne als er selbst, wie Arvand erwähnt.
Arvand, der Autor, der in einer islamistischen Familie aufwuchs, wurde erst durch sein Studium mit den Werken islamkritischer, afghanischer Vordenker vertraut. «Als Jugendlicher hatte ich sehr fundamentalistische Ideen», sagt er. «Heute bin ich auf eine andere Art ein Fundamentalist.» Simia, die Juristin, wuchs in einer weltoffenen Familie auf und las bereits in der Oberstufe Bücher von Simone de Beauvoir und afghanischen, feministischen Autorinnen. «Ich war nie eine fundamentalistische Muslimin, aber bis in die zehnte Klasse war ich gläubig», sagt sie.
Afghanistan hat das Ehepaar keineswegs hinter sich gelassen: Arvand betreibt Chat-Gruppen und eine Webseite, um sich mit afghanischen Kolleginnen und Kollegen zu vernetzen. Stolz erzählt er, dass er während der Flucht und seiner Zeit in der Schweiz bereits ein weiteres Buch geschrieben habe. Auf die Frage, ob er wieder nach Afghanistan zurückkehren würde, wenn die Taliban weg seien, folgt dennoch ein resolutes Nein. «Darauf würden einfach die nächsten Islamisten folgen», sagt Arvand. Das Land sei der Terror-Schmelztiegel des Nahen Ostens. Lieber möchte er irgendwann in den Iran – dort könnte sich nach der Revolution die Lage nachhaltig verbessern.
Von der Muslimin zur Frauenrechtlerin
Mit den anderen durch das DSPZ geretteten Aktivistinnen, Journalisten und Autorinnen tauschen sich Simia und Arvand in einer Whatsapp-Gruppe aus. Eine davon ist Qudsia Shujazada (26). Sie war Journalistin in Kabul, nun lebt sie in einem kleinen Dorf im Kanton Baselland in einem Flüchtlingsheim.
Wenn Shujazada spricht, tritt ihr Tatendrang hervor. Ihre Hände bewegen sich mit den Worten mit. Nur einmal muss sie kurz innehalten und gegen die Tränen ankämpfen: Ihre Heimat Afghanistan hat sie durch die Taliban verloren, ihre Familie ist in Europa und im Nahen Osten verstreut.
«Früher, in meiner Kindheit, war ich ein religiöser Mensch», sagt Shujazada. Mit 19 Jahren begann sie ein Journalismusstudium. Nach ihrem Abschluss zog Shujazada nach Kabul, arbeitete für ein Medien-NGO und als Reporterin. Sie engagierte sich in philosophischen Untergrundgruppierungen – gemeinsam mit Atiq Arvand – und als Frauenrechtsaktivistin. Nach der Machtübernahme durch die Taliban protestierte sie auf Kabuls Strassen, begab sich in Lebensgefahr und ins Visier der Islamisten.
Ende 2021 floh Shujazada nach Teheran. Auch im Iran setzte sie sich für die Frauenrechte ein. «Die Sittenpolizei verhaftete mich zweimal», sagt sie. Dank des Gesuchs von Sabine Haupt erhielt sie wenige Monate später ihr humanitäres Visum. «Nur dank der Arbeit des DSPZ bin ich heute noch am Leben.»
Aktivismus ist Shujazadas Lebensinhalt. «Als ich protestierte, fühlte ich mich lebendig. Das fehlt mir hier oft», sagt sie. Sie zeigt sich zuversichtlich, dass der Terror in Afghanistan ein Ende hat: «Die Taliban sind keine Regierung, sondern bloss Touristen.»
Wiedervereinigt in der Schweiz
Manche, denen Sabine Haupt die Flucht ermöglichte, schaffen es erst im allerletzten Moment auf die Liste des DSPZ: so etwa Jahan Afrooz (52), die momentan in einem Asylzentrum im Kanton Freiburg lebt. Sie arbeitete in Herat jahrelang als Lehrerin und in gemeinnützigen Stiftungen. In ihren Büchern und Gedichten schrieb sie über die frauenfeindliche Ideologie der Taliban.
An diesem kalten Januartag sitzt ihre sechsköpfige Familie in der Wohnung des jüngsten Sohnes Sharif Ebrahimi (22) und dessen Schweizer Freundin. «Ich bin glücklich, jetzt in einem Land zu sein, das klare Regeln besitzt», sagt Afrooz. «Auch wenn sie oft etwas kompliziert sind.» Genauso wie die Sprache, ergänzt Sohn Sharif. Er floh vor sechs Jahren in die Schweiz, spricht als einziger im Raum sowohl Farsi als auch Deutsch. Er muss während des Gesprächs für die vier Geschwister und seine Mutter dolmetschen.
Dass die Familie sich nun wiedervereint zum Gespräch treffen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Ihre Fluchtgeschichte ist so kompliziert, sie könnte Bücher füllen. Über ein Jahrzehnt verteilt verliessen zwei Söhne sowie Afrooz’ Ehemann Abdul Zahir ihr Heimatland. Afrooz, ihre zwei Töchter sowie der älteste Sohn blieben zurück in Herat.
Auch der Zufall half mit
Letztes Jahr fanden sie in der Schweiz wieder zusammen. Auch dank eines Zufalls: Sharif Ebrahimis Ersatzfamilie, in dessen Obhut er nach seiner Flucht in die Schweiz kam, waren Bekannte von Sabine Haupt. Als sie von Afrooz’ Tätigkeit als Autorin erfuhr, vernetzten sie die Familie mit dem DSPZ. Nur Vater Abdul Zahir (†60) schaffte es nicht in die Schweiz. Er war 2020 aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Wenige Tage nach der Machtübernahme wurde er von den Taliban ermordet.
Für Afrooz trägt die USA eine Mitschuld an der Situation in ihrem Heimatland. «Sie überreichten den Taliban unser Land», sagt sie. «Nun tun sie so, als wären sie gegen den Terrorismus, den sie selbst geschaffen haben.» Ihre Familie will sich nun in der Schweiz ein neues Leben aufbauen.
Sabine Haupts Aktion ist auch nach mehr als einem Jahr nicht beendet: Sechs afghanische Kolleginnen und Kollegen stecken in Teheran fest, wurden wiederholt vom SEM abgewiesen. Haupt zog mit den Fällen vor das Bundesverwaltungsgericht. «Ich verstehe nicht, wie das SEM argumentieren kann, dass der Iran ein sicherer Drittstaat sei», sagt Haupt.
Auch in der Schweiz läuft nicht alles so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Weiterhin warten viele der geretteten Familien auf einen definitiven Asylentscheid. Darunter auch der «Patensohn» von Schriftsteller Charles Lewinsky. Er gehörte zu den Ersten, die in der Schweiz ankamen. «Nun wartet er seit Monaten», sagt Haupt. Die Anfrage für ein Treffen lehnt der afghanische Autor ab. Für Pate Lewinsky ist dies verständlich: «Durch die unanständig lange Zeit, in der er jetzt schon auf den eigentlich klaren Entscheid wartet, ist er mit seinen Nerven völlig am Ende.»
Haupt zeigt sich stolz auf das Geleistete. Doch das Wichtigste seien schlussendlich die afghanischen Aktivistinnen und Schriftsteller, die jetzt hier in Sicherheit seien. «Sie sind die Zukunft Afghanistans. Wer soll sonst das Land wieder aufbauen, nachdem die Taliban weg sind?», fragt Haupt.