1986. Alphons Egli (1924–2016) ist in diesem Jahr Bundespräsident. Spanien und Portugal treten der EU bei. In Tschernobyl kommt es zur Atomkatastrophe. Und im gleichen Jahr wird der St. Galler Paul Rechsteiner erstmals als Nationalrat vereidigt.
Seit 36 Jahren politisiert er mittlerweile in Bundesbern – zuerst in der grossen Kammer, seit 2011 als Ständerat. Der frühere Präsident des Gewerkschaftsbundes feiert heute Freitag seinen 70. Geburtstag.
Blick traf den aktuell dienstältesten Bundesparlamentarier nach einer Kommissionssitzung zum Interview.
Blick: Herr Rechsteiner, Sie werden 70. Herzliche Gratulation! Wie fühlen Sie sich?
Paul Rechsteiner: Es gibt einem vielleicht ein bisschen zu denken, dass es schon so weit ist. Ansonsten ist es ein Tag wie jeder andere.
Ist keine grosse Party geplant?
Nein. Einfach eine Bergtour mit guten Freundinnen und Freunden am Tag darauf.
Sie sind als dienstältester Parlamentarier schon seit 1986 in Bundesbern dabei. Welches Etikett würden Sie sich da geben? Politdinosaurier? Oder Sesselkleber?
Es sind vor allem Leute, die weit weg sind von der Politik, oder politische Feinde, die solche Etiketten verteilen. In der Politik ist alles unvorhersehbar, wie im persönlichen Leben. Als ich 1986 angefangen habe, hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich 12 Jahre später Präsident des Gewerkschaftsbundes werde. Noch viel weniger hätte ich mir damals vorstellen können, dass ich 25 Jahre später dann Ständerat werde. Das Leben ist voller Überraschungen.
Trotzdem: Verspüren Sie noch keinen Druck, dass es nun reicht?
Das gab es natürlich schon immer vom politischen Gegner. Aber einem Jungen Platz zu machen, hätte zum Beispiel geheissen, Toni Brunner Platz zu machen. Das ist ja nicht im Sinn der Leute, die mich gewählt haben. Und: Erfahrung ist kein Schaden. Es hat Vorteile, wenn man sich auskennt und eine gewisse Durchschlagskraft hat.
Dann treten Sie 2023 zur Wiederwahl an?
Den Entscheid werde ich im Spätherbst bekannt geben.
Können Sie sich überhaupt ein Leben ohne Politik vorstellen?
Ich war mit Leidenschaft während 20 Jahren Präsident des Gewerkschaftsbundes. Da gab es auch eine Zeit nach dem Gewerkschaftsbund. Das Leben geht weiter.
Werden Sie von Ihrer Partei bereits bekniet, weiterzumachen? Wenn Sie aufhören, dann ist der St. Galler SP-Sitz im Ständerat verloren.
Wir werden sehen. Mir haben die Medien 2011 keine Chance gegeben, und trotzdem wurde ich gewählt. Das Unberechenbare bleibt auch für eine Zeit nach mir bestehen. Aber warten Sie zuerst meinen Entscheid ab.
Für Ihre Partei ist die Situation im Ständerat schon jetzt schwierig. Die alte Garde tritt ab. Der Sitz von Christian Levrat ist bereits weg, jener des abtretenden Hans Stöckli wackelt. Im Ständerat droht der SP 2023 ein Debakel.
Vor 2011 war die SP im Ständerat eine Randgruppe und brachte kaum Gewicht auf die Waage. Seither hat sich das geändert. Dank der guten Zusammenarbeit mit den Grünen ist Links-Grün nicht schwächer geworden.
Sie trösten sich damit, dass die Grünen auf Kosten der SP gewinnen?
Es geht doch darum, dass der ganze fortschrittliche Block gestärkt wird. Und da gibt es eine Dynamik. Gerade wenn man die Ostschweiz anschaut, die für Ständeratswahlen ja ein schwieriges Pflaster darstellt. Vor drei Jahren kam der Glarner Matthias Zopfi dazu, den niemand auf der Rechnung hatte. Und in der Westschweiz hat die SP noch Potenzial nach vorne, etwa in der Waadt oder in Neuenburg.
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Ihre Partei feiert – etwa bei der Stempelsteuer oder der Pflege-Initiative – zwar Abstimmungserfolge, bei Wahlen hingegen graben ihr Grüne und Grünliberale das Wasser ab. Macht Ihnen der Niedergang der SP keine Sorgen?
Wenn die Grünen vorwärtsmachen, ist das grundsätzlich nicht schlecht. Und die SP hat noch immer Potenzial! In den Städten und urbanen Gebieten ist die SP nach wie vor führend. Das ist ein gutes Fundament. Kommt hinzu: Die SP steht fürs Soziale und die soziale Frage ist – neben der Klimafrage – die zentrale Herausforderung. Chancen für die Jungen, Kindertagesstätten als Service public, die Verteidigung anständiger Renten – es sind diese sozialen Themen, die heute unmittelbar unter den Nägeln brennen.
Mit Mattea Meyer und Cédric Wermuth ist ein junges Duo am SP-Ruder. Man hat den Eindruck, die beiden sind noch nicht so richtig in die Gänge gekommen und fast schon zu brav.
Eine mangelnde Frechheit kann man ihnen aufgrund ihrer Juso-Vergangenheit nicht vorwerfen (lacht). Als Parteipräsidium haben sie aber eine Integrationsaufgabe und eine Reihe von schwierigen Dossiers, die man handeln muss. Angefangen mit der Europapolitik, in welcher doch viele in der SP in eine andere Richtung ziehen. So gesehen haben sie diese Integrationsaufgabe bisher nicht schlecht gemacht. Zudem hat die SP mit diesem jungen Team als erste Partei einen vollen Generationenwechsel geschafft.
Sie sind ein ausgewiesener Sozialpolitiker, nun droht Ihnen aber ausgerechnet bei der AHV-Reform am 25. September eine Niederlage.
Ein Abstimmungskampf gegen einen eigenen Bundesrat ist immer eine schwierige Herausforderung. Der Ausgang der Abstimmung ist offen. Es ist klar eine Reform gegen die Frauen mit einem Rentenverlust von 24'000 Franken. Und dies, während die Pensionskassenrenten immer schlechter werden. Wir kämpfen dafür, dass es nicht zu einem solchen Rückschritt bei den Frauen kommt.
Es geht doch nicht um einen Rückschritt, sondern um Gleichstellung.
Nur wird diese verkehrt angefahren! Wir können doch nicht mit einer Verschlechterung für die Frauen beginnen. Die Rentendiskriminierung ist bei den Frauen noch grösser als die Lohndiskriminierung. Vor allem wegen der schlechten Abdeckung in der zweiten Säule. Wir müssen doch zuerst diese Diskriminierung beenden und mit Verbesserungen beginnen, bevor Verschlechterungen infrage kommen.
An Verbesserungen in der zweiten Säule arbeitet das Parlament ja gerade jetzt.
Nur sind diese völlig ungenügend. Die bürgerlichen Parteien haben den Sozialpartner-Kompromiss gebodigt und hören lieber auf Banken und Versicherungen. Da kann man nicht optimistisch sein. Und wichtig: Bei der AHV kommt jede Verbesserung sofort, bei der zweiten Säule dauert es Jahrzehnte, bis Verbesserungen spürbar sind.
In ihrem jüngsten Vorstoss fordern Sie vom Bundesrat den sofortigen Teuerungsausgleich für AHV-Renten. Hat das eine Chance?
Wenn die Mitte Wort hält, haben wir im Parlament in beiden Räten eine Mehrheit für die Forderung. Das kann der Bundesrat nicht einfach ignorieren. Der geltende Mischindex aus Lohn- und Preisentwicklung ist zwar gut, weil die Löhne meist stärker steigen als die Teuerung. In diesem Jahr sind wir angesichts der hohen Inflation in einer Sondersituation. Und die Bundesverfassung hält ausdrücklich fest, dass mindestens die Teuerung ausgeglichen werden muss.
Sie politisieren mehr als Ihr halbes Leben in Bern. Was erachten Sie als Ihren grössten Erfolg?
Meinen wichtigsten Erfolg habe ich nicht als Parlamentarier, sondern als Präsident des Gewerkschaftsbundes gefeiert. Gemeinsam mit dem Arbeitgeberverband ist es uns gelungen, mit den flankierenden Massnahmen ein vollkommen neues System für den Lohnschutz einzuführen – mit tripartiten Kommissionen und Lohnkontrollen. Dies als soziale Absicherung der wirtschaftlichen Öffnung mit den bilateralen Verträgen. Dass wir das in den neoliberalen 1990er-Jahren haben durchsetzen können, erachte ich als grossen Erfolg.
Und im Parlament?
Die endgültige Abschaffung der Todesstrafe in der Schweiz geht auf einen meiner Vorstösse zurück. Und einer meiner wichtigsten Erfolge der frühen Jahre war die Insolvenzdeckung der Pensionskassen-Guthaben der Büezer. Auch die Vorlage Steuerreform und AHV-Finanzierung, bei welcher ich intensiv mitgearbeitet habe, zähle ich zur Erfolgsbilanz. Das Scheitern der Altersvorsorge 2020 hingegen war ein grosser Rückschlag. Sie hätte einen grossen Durchbruch für bessere AHV-Renten gebracht.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Seit 1986 hat sich vieles verändert – Ihr Erscheinungsbild aber nicht. Ihr Schnauz ist fast schon Kult.
(Lacht) Meine Frau ist klar der Meinung, dass mir der Schnauz steht! Und vor allem Junge tragen ihn jetzt ja auch wieder. Aber das Erscheinungsbild steht für mich nicht im Vordergrund – ich bin kein Showman.
Es gab ja schon mal einen tanzende Landammann nach einem Abstimmungssieg. Unser Vorschlag: Wenn Sie die AHV-Abstimmung gewinnen, rasieren Sie sich den Schnauz ab!
Ich habe schon viele solcher Vorschläge bekommen – und habe nie mitgemacht. Ich muss Sie auch jetzt enttäuschen. Mein Schnauz bleibt.