In gut fünf Wochen wird Christoph Blocher 80. Von Altersmüdigkeit zeigt er aber keine Spur. Erst recht nicht, wenn es um die Europapolitik geht. Da kochen die Emotionen beim SVP-Doyen hoch – auch beim Treffen mit BLICK in Blochers Büro in Männedorf ZH. Auf dem Weg ins Sitzungszimmer gilt Maskenpflicht, im Gespräch – bei Kaffee und Basler Läckerli – nicht.
BLICK: Herr Blocher, Sie sind beim Wandern gestürzt. Wie geht es Ihrem Kopf?
Christoph Blocher: Das Innere ist unversehrt. Das Äussere ist verheilt. Am meisten spüre ich noch die Rippen. Aber es ist nichts gebrochen – Glück im Unglück.
Nun droht auch politisch ein Absturz. Sämtliche Umfragen verheissen für Ihre Begrenzungs-Initiative nichts Gutes.
Na und?
Macht Ihnen das keine Sorgen?
Wären alle Resultate der früheren Umfragen eingetroffen, wären wir heute im Europäischen Wirtschaftsraum und die Schweiz in der EU. Die Minarett-Initiative, die Ausschaffungs- und Einwanderungsinitiative wären bachab gegangen. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Diesmal ist es besonders schwierig: In dieser Corona-Zeit sind ja richtige Veranstaltungen verboten. Ein Abstimmungskampf mit angezogener Handbremse im Kampf aller gegen die SVP hat etwas Gespenstisches.
Tatsächlich gingen bei der Masseneinwanderungs-Initiative 2014 die Wogen deutlich höher als heute.
Eben. Aber für die Begrenzungs-Initiative ist es ohnehin eine Win-win-Situation: Wenn sie angenommen wird, dann «Gott sei Dank» für das Land. Und wenn es ein Nein gibt, bekommt die SVP Aufwind, denn die Gegner – das Establishment – tragen dann die Verantwortung für das gigantische Zuwanderungs-Chaos, das eintreten wird.
Die Gewerkschaften werfen Ihnen gerade vor, dass auch Sie weiter Zuwanderung wollen – aber nur billige Arbeitskräfte, um so die Löhne zu drücken.
Ohne Personenfreizügigkeit sind die Löhne gestiegen, nach 2007 nicht mehr. Natürlich: Für uns Unternehmer ist es von Vorteil, unter 500 Millionen Europäern auslesen zu können. Aber für all die Schweizer von Nachteil.
Die Löhne werden aber über die flankierenden Massnahmen kontrolliert. Doch gerade die wollen Sie auch streichen.
Mit der Personenfreizügigkeit sind diese nötig, aber mit der Begrenzung braucht es sie nicht. Es ging den Lohnempfängern ohne besser.
Die Löhne würden mit der SVP-Initiative sogar steigen?
Eindeutig. Schauen Sie die Zahlen von 1971 bis 2007 an. Mit Kontingentierung und Inländervorrang stiegen die Löhne. Niemand wollte dies darum ändern. Aber die Schweiz liess sich von der EU die Personenfreizügigkeit aufs Auge drücken. Das Plakat der SVP ist daher sehr treffend: Die EU hockt auf der Schweiz! Das muss sich ändern!
Gerade im SVP-Wirtschaftsflügel gibt es aber prominente Vertreter wie Peter Spuhler oder Diana Gutjahr, die sich dezidiert gegen die Initiative äussern.
Ja, leider. Wir hatten schon 2014 ein paar Abweichler. Die Volksmehrheit stimmte aber mit uns. Wie gesagt: Die Personenfreizügigkeit ist eben gerade für Unternehmensleiter, die nicht langfristig denken, ein Vorteil. Das sagte ich auch einem Peter Spuhler: «Du schaust nur auf deinen momentanen Vorteil. Was für das Land schlecht ist, kann unternehmerisch nicht richtig sein.»
Dann handeln diese Parteikollegen egoistisch?
Natürlich! Aber Peter Spuhler ist nicht der Einzige. Erst recht wehren sich die Gewerkschaften genauso aus egoistischen Gründen gegen die Begrenzungs-Initiative. Das Wohl der Schweizer Arbeiter vergessen sie, aber sie sacken Millionen Zwangsabgaben von Arbeitern und Gewerbebetrieben ein.
Die Wirtschaft betont aber regelmässig die Bedeutung der Personenfreizügigkeit.
Aus den genannten Gründen. Sie sehen nur gerade ihren kurzsichtigen Vorteil. Gleichzeitig werden unsere Sozialwerke durch Ausländer immer stärker belastet.
Im SVP-Extrablatt, das an alle Haushalte verteilt wurde, wirbt auch Bundesrat Ueli Maurer prominent für die Initiative. Er hat damit das Kollegialitätsprinzip verletzt!
Nein. Weil der Bundesrat für die Nein-Parole ist, hat er nicht gesagt, man solle jetzt Ja stimmen.
Seine Haltung wird aber sehr deutlich.
Jedermann weiss, dass Ueli Maurer damals als Nationalrat und früherer Parteipräsident entschieden für eine Begrenzung eintrat. Und jetzt – wo er im Bundesrat ist – soll er zum Wendehals werden? Er hätte noch weitergehen können, ohne das Kollegialitätsprinzip zu verletzen. Er hätte etwa sagen können: «Ihr kennt meine Sorgen betreffend die exzessive Zuwanderung. Ich trat stets für Korrekturen ein, aber der Bundesrat ist gegen die Initiative.» Das sagte er nicht.
Mit einem Ja zur Initiative wäre das Kapitel vorerst abgeschlossen. Bei einem Nein geht es weiter mit dem Rahmenabkommen. Das scheint aber noch weit weg zu sein.
Der Schein trügt. Bei einem Nein ginge nicht nur die masslose Zuwanderung weiter, sondern es ginge auch voran mit dem Rahmenvertrag – dem institutionellen Abkommen. Dann wird alles noch «verreckter». Bundesrat und EU schweigen darüber bis am Montag nach der Abstimmung.
Was erwarten Sie denn konkret am Montag nach der Abstimmung?
Die EU wird jubilieren und behaupten, die Schweiz wolle ja die Anbindung an die EU. Der Bundesrat wird darauf hinweisen, dass es beim Abkommen noch ein paar Verbesserungen brauche. Dann werden die Unterhändler an unwichtigen Details etwas ändern und behaupten, das sei ein Durchbruch. Über das Wichtigste – dass mit dem Abkommen künftig alleine die EU der Schweiz ihre Gesetze diktiert und der Europäische Gerichtshof entscheidet –, wird man schweigen. Doch das Abkommen bringt fremdes Recht und fremde Richter.
Befürchten Sie, dass das Abkommen in der Bevölkerung tatsächlich durchkommt?
Man wird auch dort das Volk erneut brandschwarz anlügen. Und erneut mit Unsinn drohen: Es gebe ohne EU-Diktat und fremde Richter keinen EU-Binnenmarkt, werden sie schwindeln. Genau wie jetzt mit der Begrenzungs-Initiative. Ich kann nur sagen: Ich war mein Leben lang Exportunternehmer – und kein erfolgloser. Das mit dem fehlenden Binnenmarkt ist doch alles dummes Zeug!
Warum?
Wir verkaufen unsere Produkte, weil sie gut sind und nicht wegen bilateraler Verträge! Zudem: Die Schweiz kauft der EU mehr Güter und Dienstleistungen ab als die EU der Schweiz. 2019 verkaufte die EU der Schweiz Waren im Wert von 167 Milliarden Franken, die Schweiz der EU aber nur für 155 Milliarden Franken. Die EU will auf einen solchen Kunden sicher nicht verzichten.
Die Europapolitik ist seit bald 30 Jahren Ihr Hauptthema, und die Debatte wiederholt sich. Mögen Sie überhaupt noch darüber reden?
Eigentlich nicht – aber ich muss. Erfolglos war die Debatte nicht. Dank ihr ist die Schweiz nicht in der EU! Die grosse Weichenstellung war 1992 das Nein zum EWR/EU-Beitritt. Durch dieses Nadelöhr müssen die EU-Turbos durch.
Es gab aber auch zahlreiche Niederlagen – bei der Personenfreizügigkeit oder Schengen/Dublin. Ihre Gesamtbilanz?
Wir haben viel «uf d Schnure» bekommen, doch die grosse Linie konnte die Schweiz halten. Ein EU-Beitritt hat heute keine Chance mehr. Hier ist uns viel geglückt. Dank uns hat der Bundesrat das Rahmenabkommen bisher nicht unterzeichnet – aus Angst vor einer Volksabstimmung. Ohne uns wäre alles still durchgewinkt worden!
Es braucht Sie also immer noch?
Nicht nur mich. Es braucht jeden. Und wenn das Land ruft, muss man antreten. Die Personenfreizügigkeit ist ja ein misslungenes Experiment: 2007 hat das Volk zwar Ja gesagt, weil es dem Bundesrat glaubte. Die Unwahrheit wurde aber schnell aufgedeckt, und schon 2014 sagte das Volk Nein dazu. Doch das Establishment missachtete – obwohl auf die Verfassung geschworen – die Verfassung. Eine missliche Tat.
Und wenn die Initiative nun abgelehnt wird, akzeptieren Sie dies als Ja zur Personenfreizügigkeit?
Nein. Denn auch mit einem Nein steht in der Bundesverfassung, dass die Schweiz und nicht die EU die Zuwanderung steuert. Und sie sagt auch, wie steuern! Dieser Artikel gilt nach wie vor.
Kommen wir zu Ihrer Partei: Sind Sie zufrieden mit dem Zustand der SVP?
Die SVP ist gewachsen, wie es noch keine Partei erlebt hat – von 9,9 Prozent auf heute fast 26 Prozent. 2015 waren es fast 30 Prozent! Das damalige Resultat hat mir Angst gemacht, denn ein solcher Erfolg ist zu verdauen. Jetzt befinden wir uns in einer Konsolidierungsphase. Natürlich ist Zulegen schöner als Halten. Aber Halten ist bereits eine Riesenleistung.
Nach der Wahlniederlage haben Sie dem damaligen Präsidenten Albert Rösti aber die Leviten gelesen.
Nein. Er war ein guter Präsident, aber wir haben die Wahlniederlage besprochen und festgelegt, was zu tun ist. Dies bei Toni Brunner im hinteren Stübli seines Restaurants. Wunderschön und gemütlich. Nur sein «Enzian-Schnaps» gehört nicht zu meinen Präferenzen (lacht).
Was war das Fazit?
Das Präsidium muss wieder näher zu den Sektionen. Ueli Maurer war als Parteichef fast jeden Abend in einer anderen Sektion. Doch Rösti hat sich dann für die grosse Politik und nicht für die parteiinterne Führung entschieden. Das ist zu akzeptieren.
Ist der neue Parteichef Marco Chiesa der Richtige dafür? Angesichts der langen Anfahrtswege aus dem Tessin kommt er doch nie in der ganzen Schweiz herum.
Ich staune, wo er schon überall war. Aber der Präsident muss nicht alles alleine machen.
Auch Ihre Lieblingsfeindin, die SP, erhält eine neue Führung. Freuen Sie sich auf das Duo mit Mattea Meyer und Cédric Wermuth?
Ich kenne die beiden zu wenig. Natürlich bin ich gegen das süsse Gift des Sozialismus: Dieser verteilt Geld, ohne dafür arbeiten zu müssen. Wir dagegen vertreten das arbeitende Volk.
Am 11. Oktober werden Sie 80. Planen Sie ein grosses Fest?
Nein, ich feiere nie gross Geburtstag. An meinem 70. war ich mit meiner Frau in Namibia. Da erreichte mich ein Gratulations-SMS von Toni Brunner. Ich dankte ihm: «Ich sitze zurzeit in der ältesten Wüste der Welt und feiere den 70. Geburtstag.» Er hat geantwortet: «Oh, du Armer, du sitzt in der ältesten Wüste und ich bei der jüngsten Schönsten.» (lacht)
Haben Sie auch diesmal eine Reise geplant?
Nein. Meine Frau lädt zu einer Familienfeier ein – mit den Familien unserer Kinder und allen zwölf Enkeln. Wir legen Wert darauf.
Lassen Sie uns zum Schluss noch über den Streit um Ihr rückwirkendes Ruhegehalt sprechen. Die Finanzdelegation will Ihnen die Rente verweigern.
Was sagen Sie dazu?
Einen negativen Entscheid hat sie nicht gefällt, und ich war nicht involviert.
Der Bundesrat hat Ihnen das Ruhegehalt bereits zugesprochen. Erwarten Sie, dass er den Entscheid korrigiert – oder verzichten Sie gar freiwillig?
Ich habe den Rechtsanspruch geltend gemacht. Der Bundesrat hat diesen gutgeheissen. Ich habe hier nichts beizufügen.
Christoph Blocher (79) hat seit Jahrzehnten eine Mission: den Kampf gegen die EU. Mit dem Widerstand gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 wurde er zur Ikone der Rechten. Der Sieg läutete den Aufstieg der SVP zur heute grössten Partei ein. Zwar hatte die SVP im Jahr 2000 noch Ja zu den Bilateralen I gesagt, doch mittlerweile ist ihr die Personenfreizügigkeit ein Dorn im Auge. Mit der Zuwanderungs-Initiative gelang Blocher ein nächster Coup. Sollte nun die Begrenzungs-Initiative scheitern, wird er trotzdem weiter in der Arena stehen: Der Kampf gegen das Rahmenabkommen bleibt seine Mission.
Christoph Blocher (79) hat seit Jahrzehnten eine Mission: den Kampf gegen die EU. Mit dem Widerstand gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 wurde er zur Ikone der Rechten. Der Sieg läutete den Aufstieg der SVP zur heute grössten Partei ein. Zwar hatte die SVP im Jahr 2000 noch Ja zu den Bilateralen I gesagt, doch mittlerweile ist ihr die Personenfreizügigkeit ein Dorn im Auge. Mit der Zuwanderungs-Initiative gelang Blocher ein nächster Coup. Sollte nun die Begrenzungs-Initiative scheitern, wird er trotzdem weiter in der Arena stehen: Der Kampf gegen das Rahmenabkommen bleibt seine Mission.