Wie wurde vor sechs Jahren diskutiert und gestritten! Vor der Abstimmung über die SVP-MasseneinwanderungsInitiative gabs kein Entrinnen: Die Zuwanderung war Dauerthema in Politik wie Medien. Egal, ob es um steigende Mieten ging, Staus auf der Autobahn, zu wenig Sitzplätze in den Zügen oder den Druck auf die Löhne.
Heute, einen Monat vor der Abstimmung über die SVP-Kündigungs-Initiative, sieht es anders aus: Die Vorlage wird in den Medien zwar fleissig thematisiert – doch von der damaligen Aufregung ist kaum etwas zu spüren. Obwohl die Begrenzungsinitiative schärfere Konsequenzen hätte: Sie verlangt unmissverständlich eine Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU.
Dass die Debatte kaum in Fahrt kommt, spürt Laura Zimmermann (28) bei ihrem Terminkalender. «Normalerweise nehme ich während der heissen Phase von Abstimmungskampagnen an zwei bis drei Podien pro Woche teil», so die Co-Präsidentin von Operation Libero, «jetzt findet gerade mal ein Podium insgesamt statt.»
Kommentar zur Kündigungsinitiative
Angst um Sicherheit
Ein wesentlicher Grund dafür ist natürlich die Corona-Krise. Angesichts der aktuellen Lage hat Operation Libero beschlossen, keine eigenen Podien zu organisieren; andere politische Akteure reagierten ähnlich. Zu gross ist die Angst, die Sicherheit der Besucher nicht garantieren zu können.
Der Wegfall der Podiumsgespräche erschwere indes nicht nur die Mobilisierung von Bürgerinnen und Bürgern, so die Politaktivistin. «Es fehlt auch der direkte Austausch.» In den sozialen Netzwerken erlebe man weder den Gesichtsausdruck des Gegenübers noch eine direkte Konfrontation der Argumente. «So weiss man nicht, was die Leute über die Vorlage denken.» Das sei gefährlich: «Viele haben den Eindruck, das Nein zur Kündigungs-Initiative sei schon sicher.»
SP-Nationalrat Cédric Wermuth (34) führt einen weiteren Grund an, warum der Meinungsaustausch mit der Bevölkerung in Abstimmungskämpfen entscheidend ist: «Durch das direkte Feedback des Publikums sieht man, welche Argumente funktionieren, und kann die Kampagne entsprechend anpassen.» Zurzeit fehle das.
Einen eher verhaltenen Abstimmungskampf zur Kündigungs-Initiative registriert auch Politgeograf Michael Hermann (48). Das liege aber nicht allein an der Corona-Krise. Vielmehr sei die Ausgangslage derzeit eine ganz andere als vor sechs Jahren. «Die Abstimmung über die Masseneinwanderungs-Initiative im Jahr 2014 war der Höhepunkt einer Debatte, die schon Jahre vorher begonnen und sich kontinuierlich hochgeschaukelt hatte», analysiert Hermann.
Zuwanderungsdebatte gibt es schon lange
Die ersten Zeitungsartikel über Zuwanderung erschienen bereits in den Jahren 2006 und 2007, sagt der Politgeograf: «Ich erinnere an die BLICK-Serie von damals mit dem Titel: ‹Wie viele Deutsche verträgt die Schweiz?›» Die SVP habe sich denn auch erst im Zuge der Zuwanderungsdebatte auf die Personenfreizügigkeit eingeschossen. «Zuvor legte die Partei den Fokus eher auf Asylbewerber oder kriminelle Ausländer», so Hermann. Die hohe Zuwanderung im Jahr vor der Abstimmung sorgte dann dafür, die Debatte weiter anzuheizen.
Heute habe die Ausländerfrage nicht mehr dasselbe Erregungspotenzial, sagt Hermann. «Das zeigte sich bereits bei den Wahlen 2019: Die Luft aus dem Thema ist draussen.» Eine ganz andere Wahrnehmung der Situation herrscht bei der SVP. Marcel Dettling (39), Co-Kampagnenleiter der Initiative, erlebt einen «sehr intensiven Abstimmungskampf». Der habe sich zwar stark in die sozialen Medien verlagert, meint der SVP-Nationalrat, «aber auch im Fernsehen war die Begrenzungsinitiative vergangene Woche jeden Tag ein Thema».
Auch seien die SVP-Sektionen sehr aktiv: «Wir haben täglich Auftritte, Info-Anlässe und Podiumsgespräche – so viele, dass ich sogar Anfragen absagen musste.»