BLICK: Herr Maillard, haben Sie ein schlechtes Gewissen?
Pierre-Yves Maillard: Nein, warum sollte ich?
Im Abstimmungskampf um die Masseneinwanderungs-Initiative 2014 haben sich die Gewerkschaften zurückgehalten. Sie tragen damit eine Mitschuld, dass die Initiative knapp durchkam.
Ach was, es gab eine klare Nein-Parole der Gewerkschaften. Das Problem war aber, dass die Arbeitgeber und Bürgerliche den sozialen Fortschritt blockierten. Obwohl die Wirtschaft wuchs, schlug sich dies nicht entsprechend auf die Löhne nieder. Es fehlte das soziale Gleichgewicht. Man kann nicht mit steigendem Wohlstand argumentieren, wenn dieser nicht allen Menschen zugute kommt. Das ist der Grund, weshalb sich unsere Basis zurückgehalten hat.
Nun lancieren die Gewerkschaften ihre Nein-Kampagne mit einem Extrablatt. Was hat sich geändert, dass sie sich nun derart für ein Nein ins Zeug legen?
Wir sehen Zeichen für eine konsensfähige soziale Strategie, bei der wir mit dem Bundesrat und den Arbeitgebern etwas erreichen können. In der Covid-Krise haben wir im Bereich Kurzarbeit und Erwerbsersatz auch bis jetzt ziemlich gut zusammengearbeitet. Bei der zweiten Säule haben wir einen Kompromiss gefunden. Und die Probleme älterer Arbeitsloser werden mit einem breiten Massnahmenpaket angepackt.
Dazu gehört auch die Überbrückungsrente. Hat man damit Ihr Nein zur Begrenzungs-Initiative erkauft?
Nein, das ist kein politisches Spielchen! Die Überbrückungsrente ist eine soziale Antwort auf ein reales Problem. Das haben Arbeitgeber und Bürgerliche eingesehen. Einzig die SVP will die Menschen nach 40 Jahren Arbeit in die Sozialhilfe drängen und ihnen die Früchte eines Arbeitslebens wegnehmen. Sollte das von SVP-Kreisen lancierte Referendum zustande kommen, werden wir diesen sozialen Fortschritt mit aller Kraft verteidigen.
In Ihrem Extrablatt fahren Sie schweres Geschütz auf: Der Arbeitsplatz wird zum «Tatort». Die SVP zur Täterin?
Nein. Aber wir schlagen Alarm. Die SVP spricht von Einwanderung, doch wir zeigen, dass sie in Wahrheit die flankierenden Massnahmen beseitigen will. Sie will den Lohnschutz abschaffen, um mehr Wettbewerb zu erhalten. Von der Familie Blocher hören wir, dass weiterhin genügend ausländische Arbeitskräfte kommen können. Nur: Kommt die Kündigungs-Initiative durch und fallen die flankierenden Massnahmen, dann beginnt das Lohndumping, die Löhne werden für alle sinken. Diese neoliberale Haltung bringt alle Arbeitnehmenden unter Druck.
Der SVP geht es darum, die Zuwanderung zu kontrollieren. Sie hingegen liefern keine Alternative, um die Migration zu steuern.
Doch! Der Lohnschutz mit den flankierenden Massnahmen ist die beste Zuwanderungsregulierung! Solange Schweizer Löhne bezahlt werden müssen, kommen weniger ausländische Arbeitskräfte in die Schweiz.
Wie bitte? Die hohen Löhne sind doch ein Magnet für Ausländer.
Aber nicht jeder kann kommen! Nur wer einen Arbeitsplatz hat. Wenn die Arbeitgeber Schweizer Löhne zahlen müssen, haben sie weniger Interesse, im Ausland Personal zu rekrutieren, solange es genügend einheimische und gut ausgebildete Fachkräfte gibt. Der Lohnschutz wirkt als Inländervorrang, aber ohne Diskriminierung. Wenn der Lohnschutz fällt, können die Arbeitgeber ohne jegliche Barriere günstigere Arbeitnehmer im Ausland rekrutieren – dann beginnt die Lohndumping-Spirale. Mit der SVP-Initiative sinken die Löhne auf breiter Front.
Sie bekämpfen die Begrenzungs-Initiative, gleichzeitig torpedieren Sie das Rahmenabkommen mit der EU. Das geht doch nicht auf.
Das ist absolut kein Widerspruch. Unsere Haltung ist immer die gleiche: Wir verteidigen den Lohnschutz. Dieser wird durch die Initiative ebenso attackiert wie durch den jetzigen Vorschlag für das Rahmenabkommen. Wir wollen keine Lohnderegulierung, weder durch die SVP noch durch die EU-Kommission. Erstaunlicherweise sind sich Letztere in dieser Frage einig.
Dann ist das Rahmenabkommen tot?
Es braucht fundamentale Änderungen am Vertragstext. Präzisierungen alleine reichen nicht. Mit diesem Text geht es einfach nicht. Der Bundesrat muss das Rahmenabkommen neu verhandeln. Die EU muss verstehen, dass der autonome Lohnschutz von existenziellem Interesse für uns ist. Wir werden den Lohn-Sonderfall Schweiz verteidigen.
Die Sozialpartner sollten dem Bundesrat doch eine gemeinsame Lösung vorlegen. Was ist damit?
Ich äussere mich nicht zu diesen Gesprächen. Unsere Haltung ist aber klar, und dazu stehen wir auch nach dem 27. September.
Es war ein ungewohntes Bild letzten Juni: Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (52) einträchtig neben Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt (59) und Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler (62). An der Seite von Bundesrätin Karin Keller-Sutter (56) läuteten sie den Abstimmungskampf gegen die Begrenzungs-Initiative der SVP ein.
Jetzt legt der von Maillard präsidierte Gewerkschaftsbund noch einen Zacken zu. Am Montag startet er eine breite Kampagne gegen das SVP-Begehren. Zuerst online – und Anfang September mit einem zwölfseitigen Extrablatt in schweizweit gut zwei Millionen Haushalte.
«Chaos auf dem Arbeitsmarkt»
Darin zeichnen die Gewerkschaften ein düsteres Bild am «Tatort Arbeitsplatz», sollte die Initiative durchkommen. Sie warnen vor einem schwächeren Lohnschutz, schlechteren Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzvernichtung. «Die Initiative bringt auf dem Arbeitsmarkt nur Chaos», monieren die Gewerkschafter im Extrablatt.
Und sie schiessen dabei auf die SVP. Diese wolle «nicht weniger Zuwanderung, sondern Dumping mit Kontingentsystem» und eine Rückkehr zum «unmenschlichen Saisonnierstatut mit Baracken und versteckten Kindern». Illustriert wird das Ganze mit Bildern und Aussagen von SVP-Doyen Christoph Blocher (79), Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher (51) und Fraktionschef Thomas Aeschi (41).
Europameister bei Lohnkontrollen
Im Gegenzug streichen die Gewerkschaften die mit den flankierenden Massnahmen erreichten Erfolge hervor. So jubeln sie über den Europameistertitel bei den Lohnkontrollen. Relativ zur Bevölkerung hat die Schweiz die Nase vorn: So würden hierzulande jährlich 41'000 Firmen kontrolliert – im zehnmal grösseren Deutschland nur 55'000, im ähnlich grossen Österreich 27'000, in Frankreich lediglich 20'000.
Hielten sich die Gewerkschaften 2014 im Abstimmungskampf um die Masseneinwanderungs-Initiative noch zurück, schöpfen sie nun aus dem Vollen. Rund eine halbe Million Franken wirft der Gewerkschaftsbund für seine Nein-Kampagne auf. «Für die Arbeitnehmenden steht zu viel auf dem Spiel», sagt SGB-Kommunikationschef Urban Hodel dazu. «Deshalb sind die Gewerkschaften in der Pflicht, die Lügen der SVP zu entlarven.» Ruedi Studer
Es war ein ungewohntes Bild letzten Juni: Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (52) einträchtig neben Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt (59) und Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler (62). An der Seite von Bundesrätin Karin Keller-Sutter (56) läuteten sie den Abstimmungskampf gegen die Begrenzungs-Initiative der SVP ein.
Jetzt legt der von Maillard präsidierte Gewerkschaftsbund noch einen Zacken zu. Am Montag startet er eine breite Kampagne gegen das SVP-Begehren. Zuerst online – und Anfang September mit einem zwölfseitigen Extrablatt in schweizweit gut zwei Millionen Haushalte.
«Chaos auf dem Arbeitsmarkt»
Darin zeichnen die Gewerkschaften ein düsteres Bild am «Tatort Arbeitsplatz», sollte die Initiative durchkommen. Sie warnen vor einem schwächeren Lohnschutz, schlechteren Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzvernichtung. «Die Initiative bringt auf dem Arbeitsmarkt nur Chaos», monieren die Gewerkschafter im Extrablatt.
Und sie schiessen dabei auf die SVP. Diese wolle «nicht weniger Zuwanderung, sondern Dumping mit Kontingentsystem» und eine Rückkehr zum «unmenschlichen Saisonnierstatut mit Baracken und versteckten Kindern». Illustriert wird das Ganze mit Bildern und Aussagen von SVP-Doyen Christoph Blocher (79), Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher (51) und Fraktionschef Thomas Aeschi (41).
Europameister bei Lohnkontrollen
Im Gegenzug streichen die Gewerkschaften die mit den flankierenden Massnahmen erreichten Erfolge hervor. So jubeln sie über den Europameistertitel bei den Lohnkontrollen. Relativ zur Bevölkerung hat die Schweiz die Nase vorn: So würden hierzulande jährlich 41'000 Firmen kontrolliert – im zehnmal grösseren Deutschland nur 55'000, im ähnlich grossen Österreich 27'000, in Frankreich lediglich 20'000.
Hielten sich die Gewerkschaften 2014 im Abstimmungskampf um die Masseneinwanderungs-Initiative noch zurück, schöpfen sie nun aus dem Vollen. Rund eine halbe Million Franken wirft der Gewerkschaftsbund für seine Nein-Kampagne auf. «Für die Arbeitnehmenden steht zu viel auf dem Spiel», sagt SGB-Kommunikationschef Urban Hodel dazu. «Deshalb sind die Gewerkschaften in der Pflicht, die Lügen der SVP zu entlarven.» Ruedi Studer