Am Entscheid gab es nichts zu rütteln. Eigentlich. Doch nach dem russischen Einfall in die Ukraine stellte sich die Frage unter neuen Vorzeichen: Sollte die Schweiz tatsächlich Einsitz nehmen im Uno-Sicherheitsrat? Nein, fand die SVP und forderte im März 2022 einen Verzicht der Kandidatur. Die Partei sah die Neutralität des Landes gefährdet. Die Mehrheit des Parlaments kam zu einem anderen Schluss. So blieb es dabei: Ab heute Sonntag sitzt die Schweiz für die kommenden zwei Jahre im obersten Uno-Gremium – und damit Seite an Seite mit den Grossmächten.
Eine freut sich darüber besonders: alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (77). Die Aussenministerin hatte 2011 den Anstoss gegeben für die Kandidatur der Schweiz. Einen persönlichen Sieg mag sie darin nicht sehen, auch wenn die Präsenz im Uno-Sicherheitsrat natürlich sehr kompatibel ist mit der aktiven Aussenpolitik, wie sie die Genferin propagierte. In Calmy-Reys Worten ist der Einsitz die «logische Folge davon, dass sich die Schweiz seit 20 Jahren aktiv in der Uno einbringt».
Die Neutralität der Schweiz sei dadurch keineswegs gefährdet, meint sie im Gespräch mit SonntagsBlick: «Die Schweiz ist keine Partei in Konflikten, sondern verteidigt das internationale Recht.»
«Die Schweiz hat einen guten Ruf»
Für die Schweizer Diplomatie sei die Präsenz im Sicherheitsrat ein grosses Plus. «Sie kann ihr Netzwerk ausbauen und bekommt Zugang zu den Grossmächten und zu Informationen, die sie normalerweise nicht hätte.» Die alt Bundesrätin geht gar noch einen Schritt weiter und meint: «Vielleicht hätte man mit einem Sitz im Uno-Sicherheitsrat das Chaos um die Sanktionen gegen Russland vermeiden können.» Möglicherweise wäre der Bundesrat von Russlands Einmarsch in die Ukraine weniger überrascht gewesen. «Schliesslich kam der Uno-Sicherheitsrat zwei Tage vor der Invasion zusammen.»
In erster Linie aber sieht Calmy-Rey in der Einsitznahme eine Chance für die Schweiz, ihre Interessen einzubringen: eine Ordnung, die auf dem internationalen Recht und nicht auf dem Recht des Stärkeren beruhe. Und das Land könne als aktives Mitglied einiges erreichen: «Die Schweiz hat einen guten Ruf. Sie ist neutral, glaubwürdig und hat eine grosse Tradition der Guten Dienste.»
Natürlich werde es vonseiten der Grossmächte Druckversuche geben, räumt Calmy-Rey ein. «Das hindert die Schweiz nicht daran, ihre Werte zu verteidigen: Demokratie, Respekt des internationalen Rechts und der Menschenrechte.» Und, fügt die Aussenpolitikerin an: «Ich habe nie gesagt, dass es ein Spaziergang wird. Aber wir profitieren davon, im Uno-Sicherheitsrat zu sitzen. Und die Welt braucht das Engagement von Staaten wie der Schweiz.»
Norwegen konnte einiges bewirken
Dass kleine Länder durchaus etwas bewirken können, diese Erfahrung hat Norwegen gemacht, Quasi-Vorgänger der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat.
«Norwegen ist Teil der Nato, aber nicht der EU – und wird daher als unabhängiger Akteur angesehen», sagt Niels Nagelhus Schia (48), Forscher am Norwegischen Institut für Internationale Beziehungen. So habe Norwegen erfolgreich mit Mexiko zusammengearbeitet: «Die beiden Länder ergriffen die Initiative, damit der Sicherheitsrat den Uno-Generalsekretär bei der Vermittlung eines Getreidedeals zwischen Russland und der Ukraine unterstützt.» Am Ende kam der Uno-Sicherheitsrat zusammen und unterstützte den Vorschlag des Generalsekretärs. «Das war ein wichtiges Zeichen», sagt Schia.
Das Land ging zudem neue Wege im Sicherheitsrat. So lud Norwegen die Mitglieder zu einer Klausurtagung ein, wie Schia erklärt. «Die Idee war, die Mitglieder des Sicherheitsrats auf eine wichtige Priorität Norwegens aufmerksam zu machen, nämlich die Friedensdiplomatie.» Offenbar mit Erfolg. Schia: «Die Resonanz auf diese Veranstaltung war sehr positiv.»