Bund will Kantone übersteuern
Welsche kämpfen für ihre Mindestlöhne

Ein Vorstoss aus dem Ständerat nimmt vom Stimmvolk abgesegnete kantonale Mindestlöhne ins Visier. Die Westschweizer Kantone laufen Sturm und auch die Gewerkschaften gehen auf die Barrikaden.
Publiziert: 13.12.2022 um 17:20 Uhr
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Aktualisiert: 13.12.2022 um 22:05 Uhr
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Kantonale Mindestlöhne soll fallen, wenn allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge tiefere Löhne vorsehen.
Foto: keystone-sda.ch
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Ruedi StuderBundeshaus-Redaktor

Fährt der Bund den Kantonen in die Parade und hebelt kantonale Volksentscheide aus? Am Mittwoch entscheidet der Nationalrat über diese Frage.

Mitte-Ständerat Erich Ettlin (60, OW) will mit einem Vorstoss nämlich die kantonalen Mindestlöhne kappen. Zumindest dann, wenn die Sozialpartner in einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) tiefere Löhne vereinbaren und der Bundesrat den GAV für allgemeinverbindlich – also obligatorisch für die ganze Branche – erklärt.

Während einige Kantone eine entsprechende Ausnahmeregelung bereits kennen, geht in Genf (23 Franken pro Stunde) oder Neuenburg (20 Franken) der kantonale Mindestlohn vor. Mit dem Vorstoss würde dieser Vorrang gekippt.

«Angriff auf Autonomie der Kantone»

Dagegen laufen die welschen Kantone nun Sturm. Der Vorschlag greife die föderalistischen Prinzipien an «und missachtet den Volkswillen», wehrt sich die Westschweizer Regierungskonferenz in einem Schreiben an die Nationalrätinnen. Der Vorstoss müsse abgelehnt werden, um die staatspolitischen Institutionen und demokratischen Rechte zu schützen.

«Die Motion ist ein regelrechter Angriff auf die Autonomie der Kantone», heisst es weiter. Sie beschneide die verfassungsrechtliche Kompetenz der Kantone, sozialpolitisch tätig zu werden. Und: «Ein allgemeinverbindlicher GAV geniesst nicht die gleiche Legitimität wie ein kantonales Gesetz.»

«Angriff auf Working Poor»

Doch nicht nur die Romandie-Kantone, sondern auch die Gewerkschaften gehen auf die Barrikaden. Mit der Motion werde nicht nur die Freiheit der Kantone eingeschränkt, sagt Gewerkschaftsboss und SP-Nationalrat Pierre-Yves Maillard (54, VD). «Sie greift die Working Poor an, in dem kantonale Mindestlöhne unterboten werden.» Dabei gehe es darum, mit Mindestlöhnen das Existenzminimum zu sichern.

Was die Motion für Arbeitnehmende bedeuten würde, zeigt eine Berechnung der Gewerkschaft Unia. Fällt der kantonale Mindestlohn, erhält eine Coiffeuse in Genf gleich mehrere Hundert bis 1000 Franken weniger – pro Monat. In Neuenburg gehen ihr bis zu 400 Franken monatlich flöten.

«Eine solche Lohnkürzung macht keinen Sinn», sagt Maillard. Denn die bisherigen Erfahrungen würden zeigen, dass die kantonalen Mindestlöhne nicht zu mehr Arbeitslosigkeit führen würden. «Im Gegenteil: Der Personalmangel ist das Problem, nicht der Mindestlohn.»

FDP-Feller ist dafür

Doch Arbeitgeber und Gewerbler rühren weiterhin mächtig die Werbetrommel für den Vorstoss – obwohl es selbst in der SVP kritische Stimmen gibt. Auch in der Romandie stösst der Vorstoss nicht nur auf Widerstand. «In dieser Frage bin ich mehr Freisinniger als Romand», sagt FDP-Nationalrat Olivier Feller (48, VD).

Der kantonale Mindestlohn bleibe ja bestehen, solange es keinen allgemeinverbindlichen GAV gebe. «Die Allgemeinverbindlichkeit wird aber vom Bundesrat aufgrund eines Bundesgesetzes beschlossen, deshalb geht hier Bundesrecht dem kantonalen Recht vor – das ist staatspolitisch ebenso wichtig.»

Gewerkschaften sollen besser verhandeln

Er ärgert sich darüber, dass die Gewerkschaften über kantonale staatliche Regelungen obligatorische GAV-Bestimmungen aushebeln könnten. «Nur einen Aspekt herauszupicken, ist unfair», sagt Feller.

Und was sagt er der Coiffeuse, die mit weniger Lohn auskommen müsste? «Sie muss von ihrer Gewerkschaft fordern, dass diese im GAV bessere Löhne verhandelt», meint der Freisinnige. «Oder dann müssten die Gewerkschaften den GAV kündigen, damit der kantonale Mindestlohn vorgeht.»

Knapper Entscheid

In der nationalrätlichen Wirtschaftskommission fiel der Entscheid mit 11 zu 10 Stimmen nur knapp für den Vorstoss aus. Im Plenum ist eine heisse Debatte programmiert – und auch hier dürfte der Ausgang eng werden.

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