In der Schweiz leben doppelt so viele Menschen unter der Armutsgrenze wie das Wallis Einwohner hat: 735'000. Und mehr als 1,3 Millionen droht das gleiche Schicksal. Das jedenfalls sagen die offiziellen Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) – vor der Corona-Krise.
Ein Mittel dagegen? Ein Mindestlohn, davon sind zumindest die Linken überzeugt. Und in den Kantonen Neuenburg, Jura, Genf, Tessin und Basel-Stadt haben sie auch die Bevölkerung überzeugt. Dort gibt es kantonale Mindestlöhne. Nun will die erst vor zwei Jahren (wieder-) gegründete Walliser Arbeiterpartei dies ebenfalls einführen – und kündigt eine kantonale Volksinitiative an. Adrien D'Errico, Mitglied der Parteileitung und Gemeinderat in Monthey VS, erklärt gegenüber Blick, warum.
Sie lancieren eine Initiative für einen Mindestlohn im Wallis. Warum jetzt?
Adrien D'Errico: Wir wollen für die Schwächsten kämpfen. Ein Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde (3'696 Franken pro Monat für 42 Stunden pro Woche, Anm. d. Red.) würde zu mehr sozialer Gerechtigkeit und einer besseren Verteilung des Wohlstands führen. Wie können wir tolerieren, dass Menschen, die Vollzeit oder fast Vollzeit arbeiten, im Prekariat leben? Im Wallis erhalten nach Angaben des BFS rund 1400 Personen, die zu 50 Prozent oder mehr arbeiten oder arbeitslos sind, Sozialhilfe. Dies ist doch einfach nicht richtig! Zudem wird die Sozialhilfe über die Steuern finanziert. Und zwar auch, weil einige Arbeitgeber schlecht zahlen.
Ein Mindestlohn im Wallis käme einem Wunder gleich. Glauben Sie auch noch an den Weihnachtsmann?
Wir machen uns keine Illusionen. Aber die direkten und indirekten Vorteile eines Mindestlohns sind real und vielfältig! Er würde zum Beispiel der lokalen Wirtschaft zugutekommen. Ein Mindestlohn trägt auch dazu bei, Lohndumping zu bekämpfen. Im Wallis sind viele Branchen davon betroffen, wie die Landwirtschaft, die Hotellerie, die Dienstleistungen oder der Detailhandel.
2014 lehnte das Wallis die nationale Initiative für einen Mindestlohn von 4000 Franken mit 82 Prozent und eine kantonale Initiative zum gleichen Thema mit 80,7 Prozent ab. War dieses Ergebnis nicht deutlich genug?
Das war vor sieben Jahren. Seitdem haben sich die Mentalitäten geändert. Die Gesundheits- und Wirtschaftskrise, die wir derzeit erleben, hat das Bewusstsein geschärft. Es liegt nun an uns, die Walliserinnen und Walliser zu überzeugen.
Die Unternehmen haben stark unter der Corona-Krise gelitten. Wollen Sie ihnen den Garaus machen?
Ja, die Unternehmen haben gelitten, aber auch die Arbeitnehmer. Entgegen der landläufigen Meinung sind es nicht die KMU, die am wenigsten zahlen, und ich glaube nicht, dass die Einführung eines Mindestlohns sie in Gefahr bringen würde. Sie wären sogar besser gegen die Konkurrenz aus dem Ausland geschützt. Ein französisches Unternehmen, das im Wallis ein Schwimmbad einbaut, müsste seinen Arbeitern den gleichen Lohn zahlen wie die kantonalen Normen.
Aber können die Landwirte und Winzer ihren Angestellten wirklich 3'700 Franken pro Monat zahlen?
Das Wallis ist ein Kanton mit viel Landwirtschaft. In diesem Umfeld könnte die Zahlung eines solchen Gehalts tatsächlich schwierig sein. Deshalb haben wir eine Ausnahme gemacht und an ein Minimum von 18 Franken pro Stunde für diesen Wirtschaftszweig gedacht. Dies wäre ein enormer Fortschritt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieses Sektors, deren Lohn laut Tarifvertrag bei 13.40 Franken pro Stunde beginnt.
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Und wenn es einen Stellenabbau gäbe? Würden Sie dann die Verantwortung übernehmen?
Die Einführung eines Mindestlohns führt nicht zu einem Anstieg der Arbeitslosenquote – das ist ein Mythos! Der kanadische Wirtschaftswissenschaftler David Card, der gerade zusammen mit Joshua Angrist und Guido Imbens den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, konnte das Gegenteil nachweisen: Die Zahl der Arbeitsplätze bleibt bei einer Erhöhung des Mindestlohns erhalten oder steigt sogar. Denn es entsteht ein positiver Kreislauf: Die Menschen haben mehr Geld, das sie in die lokale Wirtschaft investieren, die wiederum mehr Menschen einstellt.
Arbeitgeber könnten dann aber versucht sein, die Löhne nach unten zu korrigieren ...
Es wird keine Angleichung nach unten geben, im Gegenteil. Im Allgemeinen wird ein Mindestlohn dazu führen, dass alle Löhne steigen. Nicht zuletzt deshalb, weil es den Arbeitnehmern, aber auch den Gewerkschaften, mehr Macht in den Verhandlungen gibt.
Ihre ganze Partei passt fast in eine Gondel der Piste de l'Ours in Veysonnaz VD: Haben Sie wirklich die Mittel für diese Volksinitiative?
Wir sind vielleicht nicht besonders zahlreich. Aber dafür umso überzeugter. Und wir haben nicht die Absicht, allein in die Schlacht zu ziehen. Wir werden an unsere Partner appellieren: die Gewerkschaften, die anderen linken und gar die Mitte-Links-Parteien sowie deren Jungparteien.