«Papiiii!» Lisa greift mit den Händen an die Räder des Rollstuhls, den sie sich für eine Spritztour durch das Paraplegiker-Zentrum Nottwil geschnappt hat. So schnell sie kann, fährt die Elfjährige auf Philipp Kutter (48) zu, der ihr in seinem Elektrorollstuhl entgegensteuert.
Bei ihm angekommen, steigt sie aus, schlingt die Arme um seinen Oberkörper und schmiegt sich an ihn. «Papi, wie geht es dir?» – «Gut, nur etwas müde.» Er streicht ihr mit der zur Faust versteiften Hand übers Haar, bleibt mit den regungslosen Fingern hängen. «Deine Haare sind aber auch lang geworden», sagt er und schmunzelt. «Dass ich heute meine Töchter wieder in den Arm nehmen kann, ist ein Geschenk.»
Am Freitag, 3. Februar verändert sich Philipp Kutters Leben für immer. Der Mitte-Nationalrat ist in Scuol GR mit Freunden auf einer blauen Piste am Skifahren, als er ohne Fremdeinwirkung stürzt. «Wie ich genau gefallen bin, weiss ich nicht mehr.»
Dafür erinnert er sich, dass er danach seine Beine nicht mehr spürte. «Da wusste ich: Die Verletzung ist schlimm.» Im Kantonsspital Chur sagt ihm der Arzt, sein fünfter Halswirbel sei gebrochen, das Rückenmark beschädigt.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Da hört Kutter auch zum ersten Mal die Diagnose «inkomplette Tetraplegie». Er wird sofort operiert, am nächsten Tag fliegt ihn die Rega nach Nottwil LU. «Die ersten Tage und Wochen waren unglaublich hart.» Nicht nur für Kutter, sondern auch für seine Liebsten.
«Papi ist derselbe»
Der so bewegungsfreudige Papi, der seinen Töchtern Lisa und Julia (9) das Skifahren beibrachte, mit ihnen vom Dreimeter in den Zürichsee sprang und die Familie zu abenteuerlichen Wandertouren motivierte, kann sich von den Schultern abwärts nicht mehr bewegen.
Den rechten Arm spürt er gar nicht mehr, mit dem linken kann er sich nicht mal an der Stirn kratzen. Doch gerade die Kinder gehen mit der Situation beeindruckend natürlich um. «Nach dem ersten Schock spürten sie, dass der Papi im Kopf noch derselbe ist – und kümmerten sich rührend um ihn», sagt Anja Kutter (44).
Gut sieben Monate sind seitdem vergangen. Sieben Monate, in denen Kutter ausser an den Wochenenden täglich bis sieben verschiedene Therapien absolviert: von Physio über Ergotherapie, Krafttraining, Feldenkrais bis zur Robotik.
Am liebsten trainiere er im Wasser. «Durch die Schwerelosigkeit sind Dinge möglich, die sonst nicht gehen.» Zudem habe er sich als «Seebueb» im Wasser schon immer wohlgefühlt.
«Ehrgeiziger Patient»
Kutter wächst in Wädenswil am linken Zürichseeufer auf, seit 13 Jahren ist er dort Stadtpräsident. Im örtlichen Handballklub spielte er viele Jahre auf dem rechten Flügel. «Bewegungsmenschen machen in der Therapie oft schneller Fortschritte», sagt Physiotherapeut Laurent Wischlen, während er Kutter mithilfe eines Rutschbretts vom Rollstuhl auf das Therapiebett hievt. «Zudem ist Philipp ein ehrgeiziger Patient.»
Langsam beginnt der Therapeut, Kutters Arm hochzuheben. und testet seine Beweglichkeit. «Viel besser als beim letzten Mal.» Kutter lächelt. «Du warst auch zwei Wochen in den Ferien. Das ist wie ein Götti, der nun sieht, wie viel Fortschritte das Kind gemacht hat.»
Den rechten Arm, den Kutter anfangs nicht mal spürte, kann er heute etwas bewegen, selbst wenn die Schulter immer wieder schmerzt. Mit der linken Hand bedient er den Rollstuhl. Das aufrechte Sitzen trainiert er, indem er den Rumpf mit den Armen ausbalanciert.
Die Muskulatur funktioniert nicht mehr. «Ich musste lernen, dass es Pausen und Regeneration braucht, um Fortschritte zu machen.»
Trotz der Lähmung von der Schulter abwärts spürt Kutter Berührungen, Druck auf den Beinen. Auch die Zehen kann er etwas bewegen. Und – dafür ist er besonders dankbar – er hat bis jetzt keine chronischen Schmerzen. Dennoch braucht Kutter für alles Hilfe: fürs Anziehen, Zähneputzen, Duschen. «Hilfe anzunehmen, ist das Schwierigste, das musste ich lernen.»
Mehr Freiheiten im manuellen Rollstuhl
«Komm, Papi, wer ist schneller?» Lisa setzt sich zurück in den manuellen Rollstuhl und fährt los. Sie braucht dazu ihre Arme. Wenn Kutter ihn nutzt, kommt eine elektronische Unterstützung wie bei einem E-Bike zum Einsatz.
Vor zwei Monaten durfte er zum ersten Mal darin sitzen. «Anfangs waren es jeweils nur wenige Minuten, weil meine Arme noch nicht so viel Kraft hatten, um mich fortzubewegen. Heute schaffe ich einen halben Tag.»
Das wendige Gefährt gebe ihm im Gegensatz zum sperrigen Elektrorollstuhl viel mehr Freiheiten – etwa kann er damit an einen normalen Tisch rollen.
«Papi, wie viele Rollstühle hast du nachher zu Hause?», will Julia, wissen. «Drei. Den Elektro-, den manuellen sowie einen Duschrollstuhl.»
Ende Oktober soll es so weit sein. Dann sind die neun Monate Therapie, die bei dieser Art von Verletzung üblich sind, beendet – und Kutter kehrt zu seiner Familie zurück.
Doch das Zuhause ist nicht mehr dasselbe. Die Familie musste aus ihrem Haus mit Garten ausziehen. «Wir hätten einen Aussenlift anbauen und auch sonst sehr viel umbauen müssen. Der Aufwand wäre enorm gewesen und das Resultat für Philipp trotzdem nicht ideal», sagt Anja Kutter.
«Abschied von unserem alten Leben»
Seit drei Wochen wohnt sie nun mit ihren Töchtern in einer Viereinhalbzimmerwohnung, durchgehend rollstuhlgängig.
Trotzdem muss noch vieles angepasst werden, etwa die Dusche vergrössert. «Der Abschied von unserem Haus war auch ein Abschied von unserem alten Leben. Das tut unendlich fest weh. Aber objektiv gesehen, ist die Wohnung die beste Lösung», sagt sie.
Kutter schaut seine Frau an. Seit dreizehn Jahren sind sie ein Paar, seit elf verheiratet. «Ich bin unglaublich dankbar für die Unterstützung von Anja. Sie hätte auch sagen können: Ich will das nicht mehr. Aber wir geben uns gegenseitig Kraft.» Sie streicht ihm ihren Lippenstift von den Lippen. «Oft bin ich es, die Philipp weinend anruft. Zum Glück sind wir nach wie vor ein sehr starkes Team.»
Ihren Töchtern hat die Kommunikationsfachfrau von Anfang an gesagt: «Ihr dürft jederzeit weinen, genauso wie ich.» Zu Hause kümmert sich Anja neben den Kindern um den Haushalt, führt die eigene Kommunikationsagentur – und fährt regelmässig nach Nottwil.
«Hier lerne ich auch, wie ich mit Philipps Körper umgehen muss.» Etwa ihn vom Rollstuhl ins Bett transferieren. «Das schaffen eigentlich nur erfahrene Pflegefachleute – ich will das aber auch unbedingt hinkriegen», sagt sie und lacht. Sie selber erhält Entlastungsangebote von Freunden. «Es ist aber schwierig, etwas abzugeben. Zum Beispiel die Kinder. Die Mädchen brauchen mich jetzt mehr denn je.»
Eine Stunde zuvor in der Feldenkrais-Therapie. Tais Mundo faltet Kutters Hände ineinander wie zum Gebet – und hebt sie langsam hoch zur Stirn. Das Ziel dieser Stunde: die Nerven beruhigen, welche die Woche über mit all den Therapien so stark belastet werden.
Religiöser ist Katholik Kutter seit dem Unfall nicht geworden. Er, der stets dafür plädierte, dass die Kirche sich reformieren soll. «Ich verfluche Gott aber auch nicht.»
Klar gebe es Momente, in denen er mit seinem Schicksal hadere. Oft in der Nacht, wenn er alleine sei. Wo er sich fragt: «Warum ich? Warum diese schwere Verletzung? Ein Beinbruch hätte es doch auch getan!» Doch dann denke er daran, was noch möglich ist – und verjagt die Dämonen.
Keine Wählerstimmen aus Mitleid
Neben der Familie hilft ihm dabei die Perspektive, wieder in die Politik zurückzukehren. Als Stadtpräsident von Wädenswil ZH, wo er seit Kurzem wieder online an Sitzungen teilnimmt. Und – falls es im Oktober klappt – weiterhin als National- oder neu als Ständerat.
Dass er sich dort auch für Menschen mit Beeinträchtigungen einsetzen würde, sei selbstverständlich. «Ob Ehe für alle oder die Antirassismusnorm – ich habe mich immer für eine diversere Gesellschaft engagiert.» Dass er aus Mitleid Wählerstimmen bekommt, glaubt er nicht. «Was ich erfahre, ist Mitgefühl, nicht Mitleid.»
Die Anteilnahme aus der Bevölkerung sei riesig. Sein langjähriger Coiffeur aus Wädenswil kommt extra nach Nottwil, um ihm die Haare zu schneiden. Ein Chor kam für ein Ständli, er erhält unzählige Zuschriften.
Im Rollstuhlparcours im Garten des Paraplegiker-Zentrums testet Lisa das Bergauffahren. Julia kuschelt sich lieber auf Kutters Schoss. «Ich bin froh, dass wir bald nicht mehr so lange Auto fahren müssen, um Papi zu sehen», sagt Lisa.
Anja freut sich darauf, als Familie wieder mehr Privatsphäre zu haben und mit ihrem Mann auch mal ein Glas Wein zu trinken. Dieses kann er inzwischen selber halten.
Eine Prognose, ob Kutter jemals wieder gehen kann, können die Ärzte nicht machen. «Das zu akzeptieren, fiel mir anfangs schwer. Heute freue ich mich einfach über jeden kleinen Fortschritt.» Sein Ziel sei, so selbstständig wie möglich seinen Alltag zu meistern: «Ich glaube, so kann ich zusammen mit meiner Familie ein erfülltes Leben führen.»